Im Mai habe ich mein Elternhaus in der Oberlausitz verkauft, wo ich die ersten 16 Jahre des Lebens zugebracht habe. Das tat weh, muss ich zugeben. Aber sinnvolle Alternativen waren nicht in Sicht. Irgendwie bin ich aber auch froh, mit dieser Gegend nichts mehr zu tun zu haben. Es ist ein netter Ort im Bergland nahe der tschechischen Grenze, auch das Fachwerkhaus mit Umgebinde ist schön. Doch es gibt mehrere, nicht nur berufliche, Gründe, da nicht leben zu wollen. Zum Beispiel mehr als 30 Prozent Wählerstimmen für die AfD. Sicher gehören auch einige meiner früheren Mitschüler dazu.
Dabei muss ich mal wieder über den Begriff Heimat nachdenken. Habe ich die nun verloren? Solange meine Eltern noch lebten und sich die Familie zumindest zu Weihnachten mal traf, war schon noch etwas emotionale Verbundenheit da. Aber heute habe ich nicht das Gefühl, die Heimat verloren zu haben.
Nach dem Studium in Leipzig wurde ich 1988 nach Karl-Marx-Stadt „vermittelt“. Frei bewerben konnte man sich nicht. Und bei der Wahl zwischen Merseburg, Magdeburg und KMSt erschien mir das dritte als das kleinste Übel. Von dort war es immerhin noch am einfachsten, mal zu den Eltern zu fahren. Häufiger war ich dennoch an den Wochenenden in Leipzig.
Trotzdem habe ich 18 Jahre in Chemnitz, wie es bald wieder hieß, gelebt. Zu lange. Heimisch bin ich da nie so richtig geworden, obwohl ich die Stadt besser kenne als viele der Eingeborenen. Seit der Arbeit an der Dissertation über die Architektur und Stadtentwicklung im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts habe ich mich intensiv mit der gesamten Stadtgeschichte beschäftigt. Nur die Illusion, das ich mit diesem Fachwissen eine brauchbaren Job bekommen könnte, hat mich solange da gehalten. Zu lange. 2005 war es dann Zeit, die Reißleine zu ziehen. Da ich noch eine Teilzeitbeschäftigung da hatte, kamen all zu weite Ziele nicht in Frage, eigentlich standen nur Dresden und Leipzig zur Wahl.
Dann also Umzug nach Leipzig. Die richtige Wahl. Ist das meine Heimat? Ich fühle mich wohl hier, was mir sicherlich im heutigen Dresden schwer fallen würde. Dennoch kann ich mir vorstellen, nochmal weiterzuziehen. Und dass muss nicht unbedingt im deutschsprachigen Raum sein. In der Toskana würde ich sogar akzeptieren, in der Provinz zu leben, was hier für mich nicht mehr infrage kommt.
Das Wort Heimat hängt mit dem Heim zusammen, dem Zuhause. Im englischen home ist die Verbindung noch direkter. Im Russischen aber ist rodina der Ort der Geburt. So gibt es in den Sprachen schon mal fundamentale Unterschiede der Bedeutung. Meinen Kindheitsort habe ich unwiederbringlich verloren. Mein Heim ist im Moment Leipzig, und ich bin gern hier. Doch dazu Heimat zu sagen, fällt mit trotzdem schwer.
Nachtrag 03.07.2020
Für eine Buchrezension habe ich gerade zur Biografie von Erika Steinbach nachgeschlagen, der Obervertriebenen. Ihre Eltern kamen aus Hessen und Bremen. Sie wurde im durch die faschistische Wehrmacht eroberten Ostpreußen geboren, musste mit anderthalb Jahren aus ihrer „Heimat“ fliehen. Das sagt alles über den Heimatbegriff der Rechtsextremen.
Mein Vater und seine Familie kamen aus Schlesien. Es waren arme Landarbeiter. 1946 wurden sie ausgesiedelt. In der Oberlausitz fanden sie ein Heim. Mein Vater, der wegen des verbrecherischen Eroberungskrieges nicht einmal die zehnte Klasse abschließen konnte, machte da seine Berufsausbildung, holte das Abitur nach, wurde Lehrer. Inbrünstig sang er gern „Oberlausitz, geliebtes Heimatland …“ – er, der Vertriebene. Zwischen Herkunft und Heimatgefühl kann es gravierende Unterschiede geben.