Bookzapping I

Er ließ das Badewasser ab, indem er ein Loch in die Wanne machte. Der geneigte hellgelbe Fliesenboden des Badezimmers leitete das Wasser zu einem Abfluß, der genau über dem Schreibtisch des Mieters in der unteren Etage lag. Dieser Colin, der nach dem Bad noch die Ränder seiner schlaffen Augenlider mit einer Nagelschere schräg schnitt, hat mich erschüttert. Vor 25 Jahren. Boris Vians Der Schaum der Tage war in der Spektrum-Reihe von Volk & Welt erschienen, diesen schwarzen Heftchen mit den Collagen auf dem Titel, wirklich ein kleines Fenster zur (literarischen) Welt für DDR-Bürger. Und gut gestaltet! Noch heute nehme ich mir abends, wenn nicht gerade eine zügig abzuarbeitende Lektüre ansteht, eines der kleinen Bücher aus der mehr als einen Meter breiten schwarzen Regalzeile, um ziellos in schon mal gelesenen Bänden zu blättern. Zappen in Büchern. Häppchen zur leichten Verdauung und gegen den Schwund der Erinnerung. Doch Der Schaum der Tage konnte ich trotz Beziehungen unter den Ladentisch des volkseigenen Buchhandels nicht erwischen. Darum habe ich mir vorige Woche bei Zweitausendeins die Gesamtausgabe der Romane Vians erworben, obwohl ich drei der in dem adipositiven Paperback enthaltenen Texte in Wagenbach-Ausgaben schon habe. Aus zugegebenermaßen nostalgischen Gründen musste diese Anschaffung aber sein.

Es war ungefähr 1988, als ich den Roman, ausgeborgt, doch gelesen habe. Und dann eben umgehaun wurde von diesem Colin. Oder diesem Boris. Dieser unbekümmerter Umgang mit einer irrealen Realität, diese Fantasie fernab von konstruierter Science Fiction oder esoterisch verschwurbelter Fantastik. Zwar hatte ich etliche Dada-Texte gelesen, auch Surrealisten und ein kleines bisschen Fluxus. Aber dieser Schaum war noch anders, eben bei aller Absurdität ein gso seltsam realistisch. Und alle meine damalig aktuellen Lieblingsautoren wie Steffen Mensching oder Volker Braun wirkten plötzlich so sagenhaft trist. Resultat war, dass ich meine eigenen Schreibversuche – bis in die frühen Neunziger hatte ich noch den Traum einer Karriere als Schriftsteller – radikal umstellte. Das Zeug, mit dem ich sogar mal einen Förderpreis beim Zentralen Poetenseminar in Schwerin gewonnen hatte, galt nicht mehr. Noch 1989 schrieb ich dann Eine Party wie jede, bloß weniger Kohlensäure. Auch wenn der Einfluss Vians nicht zu überlesen ist, mag ich diesen Text im Unterschied zu den meisten frühen Ergüssen immer noch. Das darf stehen bleiben. Und glücklicherweise war das noch vor dem Mauerfall passiert, sonst würde es nach politischen Opportunismus aussehen.

Wenn ich schon die Finger in der Regalreihe mit den wunderbar schwarzen Bänden von Spektrum (Lieblingswort der Dicken) habe, dann müssen zwei weitere Exemplare unbedingt auf den Tisch. Beide dienten als Geschmacksverstärker für den von Vian geweckten Appetit. Da ist Richard Brautigan mit Forellenfischen in Amerika. Auf dem sogenannten Schmutztitel (diffamierender Begriff) ist eine Strichzeichnung des Autors abgebildet – eine lachende Forelle, sehr reduziert dargestellt, in welcher steht: For Jack Spicer and Ron Loewinsohn. Völlig unwichtig, wer diese Guys sind. Das Buch rockt. Er war verkleidet als Forellenfischen in Amerika. Er trug Berge auf den Ellenbogen und Eichelhäher auf den Kragen seines Hemdes. Tiefes Wasser floß durch die Wasserlilien, die sich um seine Schnürsenkel rankten. Schon die Struktur des Buches hat nichts mit einer fortlaufenden Erzählung zu tun, da wird zusammengeschraubt, was nicht zusammen gehört. Gut so. Manche nennen es Postmoderne. Scheiß drauf.

Und dann die Randerscheinungen von Donald Barthelme. Ich weiß bis heute nicht, wie man den Nachnamen des Autors korrekt ausspricht. So what? Ich hielt mir die Zeitschrift für sensorische Deprivation; Wanda, meine Frau, las Elle. Für eine Absolventin des Leistungskurses für Französische am Gymnasium, die sich jetzt wenig anderem widmete, als auf ein Kind aufzupassen und und zum Fenster hinauszuschauen, war Elle ein Aufruf zur Revolte. Auch Barthelme montiert ganz hemmungslos, aber innerhalb der kurzen Texte. Wenn da Balzac seinen Lieblingsfilm Der Kapitalismus auf dem Siegeszug im Kino sieht, folgt wenig später:

Die Errungenschaften des Kapitalismus:

(a) Die Ziehharmonikawand

(b) Chemisch ausgelöster Regen

(c) Rockefeller Center

(d) Casals

(e) Die Mystifikation

Kann man es treffender ausdrücken? Und wenn ich jetzt minutenlang mit dem sogenannten Textverarbeitungsprogramm kämpfen musste, welches mein Abschreiben der Passage in irgendwelche Formatierungen umsetzen wollte (zum Beispiel erschien plötzlich das Copyrightzeichen anstatt des c in Klammern), ist das nur eine Bestätigung für Bartheleme.

Ich hoffe, mit dem Umfang der Zitate nicht das frische Leistungsschutzgesetz, die jüngste Errungenschaft des BRD-Kapitalismus according to Springer verletzt zu haben.

Demnächst mehr in diesem Lichtspieltheater.

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Eine Antwort auf Bookzapping I

  1. leipziger sagt:

    In diser Reihe erschien auch das hier:

    http://www.stanislaw-lem.de/buch/provokation.html

    was mich damals ganz schwer beeindruckte. Und vor allem darauf hinwies, daß Lem nicht nur den Piloten Pirx beschreiben konnte. Hat mich wieder zurück in die seltsamen Welten fiktiver Vorworte usw. getrieben.
    Außerdem eine SEHR interessante und eigenwillige Betrachtung des Holocausts, die mir bis heute immer als mit Absicht übersehen vorkommt.

    GvH

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