Dass es zwei Leipziger Maler sind, welche die beiden wichtigsten Räume des Chemnitzer Rathauses mit großformatigen Gemälden schmücken durften bzw. dürfen, mag ein Zufall sein. Als 1910 Max Klinger vom Geheimen Kommerzienrat Hermann Vogel mit einem Bild für den Stadtverordnetensaal beauftragt wurde, gehörte er zu den berühmtesten deutschen Künstlern dieser Zeit. Gleiches kann man heute von Neo Rauch behaupten. Das Umfeld ist dennoch etwas anders.
Neo Rauch, Die Abwägung, 2012, Öl auf Leinwand, 177 x 352 cm
Kunstsammlungen Chemnitz, Foto: Uwe Walter, Berlin
© By courtesy of Galerie EIGEN + ART Leipzig/Berlin und David
Zwirner, New York/London / VG Bild-Kunst, Bonn 2012
Damals gab es in Chemnitz keine nennenswerte Konkurrenz. Heckel und Schmidt-Rottluff waren nicht nur abgewandert, sondern auf solch repräsentative Aufgaben nicht geeicht. Und die Dagebliebenen wie Alfred Kunze oder Martha Schrag auch nicht gerade. Doch heute könnte ich mir ein Bild etwa von Jan Kummer im Ratssaal sehr gut vorstellen. Oder auch von Osmar Osten, Phillip Bruhn oder Andreas Schaal und noch paar anderen Einheimischen. Dass es keine nennenswerten Künstler unter 35 mehr gibt, spielt erst einmal keine Rolle. Weniger geeignet für die Aufgabe erscheinen auch die Nicolai Bros., nicht allein der räumlichen Entfernung von ihrer Heimatstadt wegen. Sowieso spielt Rauch in einer höheren Liga. Für eine Stadt, die ihre Minderwertigkeitskomplexe kompensieren muss, ist das ein gewichtiges Argument.
Max Klinger brauchte viele Jahre für sein Chemnitzer Bild. Der Weltkrieg war schon fast am Ende, als es im August 1918 eingeweiht werden konnte, der Textilfabrikant Vogel war unterdessen schon verstorben. Klingers Qual mit dem Thema ist sichtbar. „Arbeit – Wohlstand – Schönheit“ nennt sich das Werk. Bei Klingers Neigung zum Symbolismus muss man solch einen Titel und auch die Inhalte ernster nehmen als bei Rauch, der gern im Zwielichtigen bleibt. Für den Begriff der Arbeit war das „sächsischen Manchester“ tatsächlich ein Inbegriff. Doch wo ist diese produktive Tätigkeit im Bild mit der mediterranen Hafenlandschaft zu sehen? Und Wohlstand? Na ja, Leute wie Vogel oder auch Herbert Esche und etliche andere Unternehmer hatten es tatsächlich zu Reichtum gebracht. Die Stadt selbst aber als wohlhabend zu bezeichnen, war auch damals eine Übertreibung. Und dann die Schönheit! Bei Klinger tanzen nackte Musen auf der Hafenpromenade. Zwar hatte die Stadt 1909 ein großes Museum und auch ein neues Theater, das spätere Opernhaus bekommen. Doch von einer Kulturstadt war sie weit entfernt, ebenso von einem attraktiven Stadtbild. „Rußchamtz“ war immer noch die treffende volkstümliche Bezeichnung. Klinger hatte also in seiner pathetischen Metaphorik auf ganzer Linie versagt, auch wenn das die Chemnitzer Lokalpatrioten damals wie heute nicht zugeben.
Neo Rauch hat für die Leerstelle, die wechselnde Herrscherporträts im Ratssaal hinterlassen haben, das Gemälde „Die Abwägung“ geschaffen. Das klingt zunächst ziemlich demokratisch, auch wenn der Raum heute keinen Entscheidungsfindungen mehr dient, sondern Empfängen etc. Auch die sperrige Substantivierung eines kippligen Vorganges klingt so, als wäre da eh schon alles entschieden.
Die Frau im Zentrum kann nicht Justitia sein, finde ich. Es geht nicht um Gerechtigkeit. Eher um Nachhaltigkeit, um einen vom Randchemnitzer Forst- und Bergbeamten Hans Carl von Carlowitz in der Barockzeit ins Spiel gebrachten und heute totgequatschten Begriff zu benutzen. Hochhausplatte contra Baum. Das Gleichnis ist nicht stimmig, doch Metaphern hinken immer etwas, wie schon Gertrude Stein zu persiflieren wusste. Dass die Waage auf dem Tisch aber ein Haushaltsgerät aus dem frühen 20 Jahrhundert ist, das könnte hinhauen. Das Gleichgewicht von Chemnitz stand zu dieser Zeit schon auf der Kippe, nimmt man die angedeuteten Alternativen Prosperität vs. Ökologie ernst.
Doch heute ist Chemnitz eine saubere Stadt, beängstigend sauber. Nicht nur wegen der ausgedehnten Grünflächen, die sogar das Zentrum durchziehen. Sogar der 300 Meter hohe Schornstein des Heizkraftwerkes, schon aus 30 Kilometern Entfernung sichtbar, signalisiert neuerdings in freundlichen Farben, ausgewählt vom französischen Streifenmaler Daniel Buren: Keine Gefahr! Da kommt nur heiße Luft raus. Und noch sauberer sind die Chemnitzer selbst. Ist es ein Zufall, dass hier FEWA, das erste synthetische Feinwaschmittel der Welt, erfunden wurde?
Die Abordnung der Entscheidungsbeeinflusser, die auf der rechten Bildseite der „Abwägung“ angetreten ist, und der die weibliche Verantwortungsträgerin verschworen zublinzelt, hat huldvolle Geschenke mitgebracht. Eine Pflanze in fortgeschrittenem Keimstadium, geschmackvoll präsentiert in einem Gefäß aus Waldenburger Keramik – das scheint eher symbolisch gemeint zu sein als ein Hoffnungskeim. Schwerer wiegen da schon das violett strahlende größte Nanoteilchen der Welt und das angekohlte Fundstück aus Agricolas Hüttenbetrieb, dessen Wurzeln bis ins untere Perm zurück reichen, als in Chemnitz ganze Wälder vor Ehrfurcht versteinerten. So treffen sich Tradition und Zukunft, wie man es in der Stadt liebt. Die drei koalierenden Fraktionisten haben vermutlich leichtes Spiel.
Doch woher kommt diese nicht sonderlich trendbewusst gekleidete Frau auf der linken Seite? Dass sich die Waagschale schon ihr zuneigt, ist eine Täuschung dank Rauchscher Clair-obscur-Malerei. Die Horizontale stimmt. Noch. Und was will die Fremde eigentlich als Gewicht einsetzen? Einen Vogel! Nein, nicht Hermann mit Vornamen, der ist lange tot.
Es ist ein kleines Flattertier, nicht einmal bunt. Und trotzdem unfassbar. Für Chemnitz. In einer Stadt, in der alles berechnet werden muss, in der ein Tag mit der Ladenschließzeit endet, in der BWL-Lehrbücher den Rang eines Evangeliums einnehmen, in der die Polizeiverordnung das wiederholte Zusammentreffen von zwei Personen am gleichen Platz verbietet. Was soll dieser Vogel? Der wiegt doch überhaupt nichts, so lange er noch flattert. Und nicht viel mehr, wenn er tot herunterklatscht, knapp neben der Waagschale. Falls er sie doch treffen sollte, stehen ja schon Hilfsgewichte auf der richtigen Seite bereit.
Ich vermute, dass nach Abschluss der Ausstellung in den Kunstsammlungen, wenn „Die Abwägung“ dann im Ratssaal angebracht werden soll, sich die Maße des Bildes als falsch herausstellen, auf der linken Seite also etwas weggeschnitten werden muss.