Der Zug fährt auf Bahnsteig 5 ein. Die 1, wo bisher die Verbindungen Richtung Leipzig ein- und ausliefen, gibt es nicht mehr. Da erstreckt sich ein Loch mit geneigter Sohle. Von der Wand des Querbahnsteiges fehlt ein großes Stück, nur das Stahlgerippe steht noch, verstärkt durch vorgestellte Stützen, kalter Wind pfeift durch. Hier soll bald die Straßenbahn in den Bahnhof einfahren, damit man direkt vom Zug in sie umsteigen kann, und weiter dann nach Stollberg, Mittweida, Limbach-Oberfrohna. Chemnitzer Modell nennt sich das. Woanders heißt es S-Bahn. Oder Elektritschka.
Zum Museum am Theaterplatz ist es nicht weit. Hier läuft die Ausstellung über die Perdwischniki. Grund meines Besuches in Chemnitz, dem ersten seit drei Monaten. Generalin Mössinger zieht vermutlich mehr Leute in die Stadt als irgendeine Tourismusbehörde. Aber bald muss sie wohl in Rente gehen, wer folgt dann?
Nach zwei Stunden Ausstellung gehe ich ins Zentrum. Vorbei an der umgebauten früheren Industrieverwaltung, auch als Rawema-Haus bekannt. Noch so ein Meisterstück von Claus Kellnberger. Das frühere Arkaden-Dach ist eine Etage höher gerutscht, so wie bei der benachbarten ehemaligen Post. So hat es keinen Sinn mehr, ist nur noch Deko. Der kalte Regen klatscht auf meinen nicht mehr allzu behaarten Kopf. Die Architektur des Traktes, der sich zum neugestalteten Johannisplatz anschließt, ist auch nicht gerade erwärmend. Hauptsache preisgünstig zu haben.
Aufwärmen kann ich mich im Tietz. In die Stadtbibliothek geh ich immer noch gern, auch wenn mein Benutzerausweis lange abgelaufen ist. Offene Strukturen mit genügend Sitzplätzen, wirklich einladend. Die Cafeteria neben der Bibliothek hat wieder geschlossen. Der Asiate, der sie nach einiger Pause übernommen hatte, konnte wohl nicht lange durchhalten. Ein Café mit etwa zwölf Tischen im kulturellen Hotspot der Stadt zu betreiben, ist in Chemnitz offenbar ein echtes Problem.
Ich gehe weiter, mal sehen, was mit dem Ex-Exka geworden ist. Tatsächlich hat die GGG ihren Teil saniert. Am anderen Flügel ist nur ein Haus frisch in Gelb. „Für Vereine“ steht an den leeren Räumen im Erdgeschoss, oder „Für Durchstarter“. Im großen Erdgeschossraum am Bernsbachplatz ist ein Fahrradladen eingezogen. Die Selbsthilfewerkstatt für Radfahrer ist Geschichte. Ein einsames Schild erinnert noch an die Poetenwerkstatt. Ganz prosaisch heißt es heute, dass man für 2,92 Euro pro Quadratmeter mieten kann. Hinter einigen Wohnungen der Obergeschosse brennt Licht.
Zurück zum Bahnhof. An der Straße der Nationen wirbt immer noch ein Laden für Thor Steinar-Klamotten, direkt neben dem Asia-Imbiss. Ich mache noch einen Schwenk zum Brühl. Die Tristesse liegt nicht am Schmuddelwetter. Soll hier wirklich bald der (gordische) Knoten platzen? Zumindest einen Neuzugang gibt es. Doch schon nach wenigen Tagen musste der Laden seinen Namen wegen der Proteste von „Brevik“ zu „Tönsberg“ abändern. So empfängt man hier Existenzgründer! Dabei ist es doch ausgesprochen mutig, auf kaum 300 Meter Entfernung den zweiten Nazi-Laden zu gründen.
Ich latsche zum zugigen, aufgebohrten Bahnhof. Gibt es Neues in Chemnitz? Ja, schon.