Demut bis zum Delirium – Jonathan Meese hyperventiliert im Dienst an der Sache

Die gute Nachricht zuerst: Die Manifeste Jonathan Meeses sind völlig ungeeignet, eine nennenswerte Gefolgschaft hinter sich zu scharen. Eigentlich will er das auch nicht, sieht sich doch der Trainigsjackenträger nicht als Führerpersönlichkeit und ebenso wenig als Guru, sondern nur als zutiefst demütige Ameise der Kunst.

Auf mehr als 600 Seiten breitet Meese seine Ansichten zur Diktatur der Kunst aus. Eigentlich lassen sich diese Vorstellungen in wenigen Sätzen zusammenfassen: Die Diktatur der Kunst kommt unausweichlich wie ein Vulkanausbruch, wenn der Innendruck zu hoch wird. Es wird keine Diktatur von Künstlern oder sonst irgendwelchen Menschen sein, sondern eine Totalherrschaft der Sache. Kunst ist keine Kultur. Kultur ist Totritualisietes. Kreativität ist die Höchststrafe für Selbstverwirklicher. So wie im Tierreich wird die Herrschaft der menschenfreien Kunst einzig metabolisch reguliert, also durch Stoffwechsel.

Um das Endresultat seines Stoffwechsels auszubreiten, braucht Metabolist Jonathan Meese dann eben diesen respektablen Umfang eines dicken Buches. Wenn man in der editorischen Notiz liest, dass sein handschriftliches Werk bereits auf über 50.000 Seiten angewachsen ist, kann man Suhrkamp nur dankbar sein, auf eine Gesamtausgabe vorläufig verzichtet zu haben.

Mit 14 Jahren soll der 1970 in Tokyo geborene Meese nur eine Handvoll Worte, oder besser gesagt Laute, benutzt haben. Auch heute, mit über 40, ist der Wortschatz eingeschränkt. Doch die Grundregel jeder Propaganda, Slogans unendlich zu wiederholen, hat er sich verinnerlicht. Als dauerhaftes Personal seiner Fantasien hat er echte Antihelden der Geschichte von Nero und Caligula bis Stalin, Charles Bronson und Hitler – das Stofftier, das weggekuschelt werden muss – versammelt, aber auch Humungus, den Bösewicht aus dem Film „Mad Max – der Vollstrecker“, und Alex de Large, Kubriks Bandenführer in „A Clockwork Orange“. Dazu kommen bei jedem dritten Wort die Vorsilbe Erz- sowie infantile Buchstabenverschiebungen. Das ganze Panoptikum wirkt wie ein Gastspiel von Rammstein in Bayreuth. Durch die maßlose Überdosis wird der Horrorfaktor aber neutralisiert. Dem vorhersehbaren Vorwurf, sich lächerlich zu machen, wirkt Meese entgegen: „Wer nicht durch das Tal der Lächerlichkeit geht, wird niemals zur Größe finden.“ Nietzsche und Wagner hätten diesen Weg vorgelebt.

Er lästert permanent über den tatsächlich albernen Hype um Selbstfindung und Selbstverwirklichung in der modernen Gesellschaft, baut aber gleichzeitig einen exzessiven Kult um sein Ego inklusive der dutzenden Über-Ichs von Dr. Meesüß bis Vietnameese auf. Die rationale Aussage dieser Übung könnte sein, dass man als Künstler heute um solch eine Inszenierung nicht herum kommt.

Auf hervorragende Weise wird nämlich anhand des real existierenden Androiden Jonathan Meese vorgeführt, wie der Kunstmarkt der Gegenwart funktioniert. Eine namhafte Berliner Galerie nahm sich 1998 auf Empfehlung Daniel Richters des langhaarigen Studenten an. Nach ersten Verkaufserfolgen brach er sein Studium ab, konnte sich fortan über Studenten als „Hämorrhoiden am Arsch des Staates“ mokieren. Seitdem läuft das Geschäft zur Zufriedenheit aller Beteiligten. Mit der Buchveröffentlichung, in der die nackten Texte von ihrem Kontext der Performances und Installationen entkleidet werden, kommt das Fehlen von Inhalten und Entwicklungen besonders klar zum Vorschein. Der Karriere kann das nicht schaden. Wenn ein Kunsthistoriker oder Feuilletonist seriös klingende Interpretationen liefert, so wie dies Robert Eikmeyer im Nachwort tut, wird Meese zur Feier des Tages mit seiner Mutter beim Lieblingsjapaner zu Abend essen und sich danach noch einmal „Zardoz“ ansehen. Und wenn ein Verriss erscheint ebenfalls. Denn für jeden, der in diesem Betriebssystem erst einmal eine feste Adresse hat, ist auch negative Promotion gute Promotion.

Eine Frage bleibt aber offen. Wieso erscheint diese Textauswahl ausgerechnet in der ehrwürdigen edition suhrkamp, diesem Heldensaal großer Denker der Gegenwart und jüngeren Vergangenheit? Theoriehaltigkeit werden selbst die wohlwollendsten Kommentatoren aus diesem Konvolut nicht herausquetschen können. Aber auch keine Handlungsanweisungen. So bleibt zumindest der sichere Trost, dass die Meesesche Diktatur der Kunst nie zu einer Massenhysterie führen kann.

(Erstveröffentlicht in der Leipziger Volkszeitung am 7. Mai 2012)

Nachbemerkung: Am selben Tag, als diese Rezension in der LVZ erschien, las ich eine in Fixpoetry von Tobias Roth zum gleichen Buch. Dort ist die Bewertung völlig anders. Unter Bezug auf eine weitere Kritik in der Süddeutschen Zeitung weist Roth zwar darauf hin, dass die naheliegende Verbindung mit Dada nicht geeignet ist, da dies ein Scheitern von Dada impliziert. Um seiner Begeistung aber Halt zu geben, findert er trotzdem genügend Argumente. Eines der untauglichsten ist die des „großartigen Ironiedetektors“. Wer also die Ironie nicht merkt, ist eben etwas unterbelichtet. Das ist eine grundsätzlich unwiderlegbare Aussage und genau deshalb für eine Kritik nicht brauchbar.

Ich frage mich, ob die Schreiber der positiven Rezensionen tatsächlich entzückt sind, und ob sie es überhaupt geschaft haben, das Geleier wörtlich von vorn bis hinten zu lesen. Oder ist es eben so, dass man einen Künstler, der erst einmal vom Kommerz hochgejubelt wurde, nicht mehr in Frage stellen darf ohne die Gefahr, sich selbst als Banause zu blamieren? Ist mir egal. Ich bleibe dabei: Was Meese da ausbreitet, ist gequirlte Scheiße.

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5 Antworten auf Demut bis zum Delirium – Jonathan Meese hyperventiliert im Dienst an der Sache

  1. Bettina Römer sagt:

    Danke für die gut geschriebene Reflektion, besser kann man es nicht sagen!!!

  2. Nicky Schwarzbach sagt:

    Danke für den Beitrag.
    Mir fiel noch ein:
    Wer denken kann, rennt weder in eine Kirche, noch erliegt er der Versuchung, diesem Dünnpfiff intellektuell etwas entgegen zu halten oder ihm zu folgen.
    Ich habe keine Lust, mich in seinem Laufställchen mit ihm zu messen.
    Hey, Duden, Obacht!
    „Ich habe keine Lust, mich mit ihm zu meesen“ = (Ugs.- Stark verächtl. Form, sich mit/ an etwas zu messen.)

    Weinen, Weitermachen!
    Nicky aus Krefeld

  3. gregor runge sagt:

    grundsätzlich stimme ich zu.

    zu ihrer nachbemerkung: meese ist eine kunstfigur. das ändert zwar nichts daran, dass das, was meese zum besten gibt, redundant ist, in sich widersprüchlich, aber das soll es eben auch sein. „die diktatur der kunst“ ist ja leer, paradox und tautologisch. das ganze ist in sich natürlich kein ernsthafter entwurf, sondern eine rhetorische quatsch- und quarkkiste, die sich nicht durch ihren inhalt als fingiertes gedankengebäude auszeichnet, sondern dadurch, dass sie z. b. eben dort erscheint, wo sie erscheint: in einem verlag, der sich bisher, wie mir scheint, nicht mit autoren beschäftigt hat, die sich von anfang an als totale kunstfiguren inszeniert haben, sondern eben mit autoren, bei denen man, ohne jetzt ins theoretische dickicht einzutauchen, als autoren zu verstehen sind, die „meinen, was sie sagen“.

    ich war gestern bei einer veranstaltung, in deren rahmen durs grünbein und meese aufeinander trafen (internationales literaturfestival im haus der berliner festspiele). gemessen an seiner im laufe der veranstaltung wachsenden konsterniertheit und irritiertheit (die er durch mitlachen zu kaschieren versuchte) war grünbein wohl durchaus überrascht, dass meese sich (natürlich!) nicht dazu hat hinreißen lassen, die ausgetretenen pfade seines arschlangweiligen performance-gedöns zu verlassen. wie immer gab er die gleichen versatzstücke zum besten, die gleichen widersprüche, die gleichen provokationen, den gleichen quark. (ist grünbein wirklich so naiv gewesen anzunehmen, dass meese mit ihm „reden“ würde? es hatte, der einführung und seinem verhalten nach zu urteilen, ganz den anschein. man möchte das kaum glauben.)

    wie auch immer, interessanter als meese ist ja die reaktion, die er provoziert. wenn, wie in diesem fall im haus der berliner festspiele, das publikum zu großen teilen nach meeses fundamental anti-religiösen statements applaudiert (und zwar ernsthaft und nicht etwa in anerkennung irgendeines tabubruchs oder dergleichen), dann muss einem übel werden.

    mithilfe von extrem simplifizierten statements ein publikum, das sich als gebildet versteht, dazu zu bringen, brandgefährlichen und dummen statments zuzujubeln, ist natürlich eine leistung. aber meese darf das sagen. er ist ja kunst. und fiktion. nur dürfte sich das publikum dem quark nicht hingeben. und es dürfte sich auch nicht echauffieren. es müsste argumentieren.

    aber das perfide daran: meese baut sich so auf, dass ein gespräch, eine infragestellung nicht möglich ist. meese ruft zwar dazu auf, ihn zu enthronisieren. aber innerhalb des betriebs ist er zu mächtig, er ist vorerst nicht mehr entthronisierbar. ziemliche leistung, das. weil: das ganze ist ästhetisch und inhaltlich so schnöde und dumpf! (oder auch nicht: wenn man sich ansieht, was er den menschen entlockt?) man muss sich tatsächlich fragen: was da schiefgelaufen ist. suhrkamp, bayreuth usw. wahrscheinlich hat dieses land, diese kunstwelt meese wirklich gebraucht?

    wie dem auch sei: die sache langweilt mich. das problem ist auch: was wäre angemessen als reaktion? meese provoziert eklats. aber eklats setzen voraus, dass man das spiel mitspielt. aber diese fähigkeit habe ich zum beispiel nicht. ich könnte mich nur hinstellen und eine kritische stellungnahme verlesen (und zwar eher in richtung publikum als in richtung meese). dass das ganze quark ist. dass das publikum scheiße ist. gequirlte scheiße, so wie die meese’sche „diktatur der kunst“. meese will ja entthront werden. er langweilt sich ja schon selber. aber er ist eben im starsytsem der kunstwelt angekommen. bla, blubb.

  4. admin sagt:

    Es scheint immer wieder Leute zu geben, die ernsthaft mit Meese diskutieren wollen:
    http://www.spiegel.de/video/eklat-um-jonathan-meese-in-kassel-video-1200950.html
    Die Moderatorin ist auf beängstigende Weise naiv. Aber auch hier applaudiert das Publikum gabz brav zur eigenen Verarschung.

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