Am Wochenende Lastminute zur dOCUMENTA (13). Viel Geld ausgegeben, schönes Wetter genossen und einen Text geschrieben:
Pflanzen sind Kunst. Technik ist Kunst (im Folgenden nur noch K genannt). Lebende Tiere sind K. Tote Tiere sind K. Abwesende Tiere sind K. Musik ist (Bildende) K. Songtexte sind (Bildende) K. Petitionen sind K. Quantenphysik sind K. Alle K kann aktuelle K sein, eventuell. Kabul ist Kassel. Energie ist keine K, wie ein Hauptsponsor großflächig verkündet.
Lexikologen kommen ins Stottern. Was K mal war, ist K schon lang nicht mehr. Carolyn Christov-Bakargiev setzt mit energischer (als nicht-künstlerischer) Konsequenz fort, was seit einem reichlichen Jahrhundert im Gange ist – das Einreißen von Grenzen. Diese Entgrenzung immer noch ein Stückchen weiter voranzutreiben, scheint ihr Hauptanliegen zu sein. Alles kann K sein. Kann, muss aber nicht. Der Umkehrschluss wäre, dass nichts mehr K ist. Stimmt aber nicht. CCB bedient sich virtuos und unverschämt gesellschaftlicher Mechanismen der Akzeptanz, die sich in vorhergehenden Grenzaufweichungen herausgebildet haben. Diese Mechanismen fußen auf Ritualen der Festlegung, deren Ausübung einigen wenigen Personen zugeschrieben wird. Innerhalb dieser Hierarchie sind die Kuratoren von Biennalen so etwas wie Kardinäle, im Fall der Biennale Venedig vielleicht Kurienkardinäle. Das Dogma der Unfehlbarkeit aber geht für fünf Jahre an die/den Leiterin/Leiter der documenta. Dieser/diesem Päpstin/Papst obliegt es, während der Amtszeit, die Grenzen neu festzulegen. Denn es ist ein Irrtum, dass sie verschwinden könnten.
Soziales Engagement ist K. Dokumentarfilme sind (Bildende) K. Spielfilme sind (Bildende) K. Möbeltischlerei ist K. Eine Sammlung von Essays ist K. 400 Tonnen Schrott sind K. Sondermüll aus Zypern ist K. Die Rettung eines Sees ist K. Kostenloser Tee aus selbstangebauter Minze (bio!) ist K. Die dauerhaften Exponate von Naturkundemuseum und Astronomisch-Physikalischem Kabinett sind keine K, finden aber bei den Besuchern mehr Aufmerksamkeit als manche zwischengestreuten Documenta-Exponate. Die Skulptur von Stephan Balkenhol auf dem Turm von St. Elisabeth ist keine K, sondern eine Bedrohung von CCB.
Wer eine Tages-, Zweitages- oder Dauerkarte der dOCUMENTA (13) erwirbt, eventuell noch „Das Begleitbuch“ als handhabbarsten der drei angebotenen Kataloge, überschreitet eine Grenze. Er erhält die Riten der Initiation. Die Grenzenlosigkeit existiert nicht, darf gar nicht existieren. Die finanziellen Gründe dafür sind noch die geringsten. Immerhin kann man sich eine ganze Reihe von Arbeiten im Stadtraum auch ohne Ticket ansehen. Wichtiger ist, dass man mit dem Erwerb der Karte teilhaben darf an einer Aura, die Walter Benjamin zum Trotz keinesfalls verschwinden darf, sondern stets neu aufgeladen werden muss. Obwohl die gewaltigen Schrotthaufen von Lara Favaretto im hinteren Teil des Bahnhofsgeländes eigentlich so aussehen, als würden sie schon seit Jahren da liegen, lange bevor CCB Kuratin der dOCUMENTA (13) wurde, K sind, sind die Schrotthaufen, die man wenige hundert Meter weiter vermuten kann, aber keinesfalls K. Ihnen fehlt etwas entscheidendes: eine Nummer im Katalog der dOCUMENTA (13), verbunden mit wohlklingenden Sätzen aus dem Phrasenmodulgenerator: „Beim Ergebnis wird auf die Schaffung jeder ästhetischen Form verzichtet zugunsten einer amorphen dramatischen Masse, die als Grundlage einer zweideutigen Erscheinung dient, einer instabilen Erfahrung, die zwischen Dauer und Vergänglichkeit, zwischen etwas und nichts oszilliert.“
Dieses Oszillieren kann man zwar auch dem Müllhaufen außerhalb der Sichtweite zudichten. Darf „man“ aber nicht. Das Zudichten obliegt einer Hohepriesterin. Noch deutlicher wird das bei Balkenhols Plastik auf dem Kirchturm, die vor Eröffnung „einer Kunstausstellung in Kassel“ wie es ganz bescheiden im Untertitel heißt, aufgestellt wurde. Bernd Leifeld, Geschäftsführer der dOCUMENTA (13) sagte laut dem Kunstjournal art: Die documenta-Besucher sollten wissen, „was documenta-Kunst ist und was nicht. […] Die künstlerische Leiterin weiß, dass diese Art von Kunst für diese documenta nicht adäquat ist.“ Wie kann sich eine katholische Kirche anmaßen, die Hohepriesterin der Unfehlbarkeit zu ignorieren?
Es ist eben doch nicht alles K. Vor allem nicht K der dOCUMENTA (13). CCB erweist sich als eine entschiedene Grenzbefestigerin.
Zeichnungen auf Papier sind K, sofern sie älter aus 30 Jahre sind. Gemälde auf Leinwand sind K, sofern sie älter als 30 Jahre sind oder aus Kabul kommen. Bronzeplastiken sind K, sofern sie älter als 30 Jahre sind. Ein Computer ist K, nicht aber eurer PC zu Hause. Unscharfe Fotos sind K, nicht aber die Milliarden Bilder, die ihr mit Smartphones und SLR in den Ausstellungen knipst (Kein Blitz!, Kein Stativ!). Nicht über die grauen Linien treten!
Die dOCUMENTA (13) ist ein Massenspektakel. Fast eine Million Besucher können nicht irren. Können sie wohl. Ebenso wie Hunderttausende Gläubige auf dem Petersplatz. Nur der oder die da oben irrt nicht. Das ist so festgelegt. Es ist das Image der Institution documenta, welches die Massen anzieht, nicht die Qualität der Arbeiten. Im Unterschied zu Kunstmessen, wo Galeristen, Kenner und Käufer weitgehend unter sich bleiben, strömen hier alle Bevölkerungsschichten heran, mit Kinderwagen und Rollator ausgerüstet. Endlich die neuen Grenzen kennen. Und die Petition zur Aufnahme der Atmosphäre ins Weltkulturerbe unterschreiben. Dabei sein ist alles. Dabei sein ist unmöglich. Keiner schafft es, alle Exponate anzusehen, anzuhören. Die Laufzeit der vielen Videos lässt sich aus dem Katalog nicht ermitteln, muss aber zusammengerechnet mehrere Tage betragen. Die Wartezeiten nicht nur vor den Schauplätzen, auch vor einzelnen Kabinen schwanken mit dem Besucheraufkommen, können aber auch bei mehreren Tagen sukzessive liegen. Ist Warten K? Samuel Beckett würde entschieden antworten: May be. Manche Performances finden selten oder einmalig statt. Und nach Kabul, Banff und Kairo fährt sowieso keiner. Niemand war da, außer CCB und Entourage. Demokratie? Ja klar. So wie in der großen Politik, so auch bei der großen dOCUMENTA (13). Wir bestimmen – ihr habt den Anschein, beteiligt zu sein.
In einer Halle des Nordflügels am Hauptbahnhof Kassel steht die Installation von István Csákány. Er hat aus Holz eine Konfektionsfabrik nachgebildet, so als wären die Näh- und Bügelmaschinen gerade erst verlassen worden. Daneben flanieren schicke Nadelstreifenanzüge ohne ihre menschlichen Träger. Eine Fleißarbeit im Unterschied zu vielen anderen Exponaten dieser dOCUMENTA (13). Um die hölzerne Fabrik ist auf dem Boden der früheren Lagerhalle ein grauer Farbstreifen gezogen. Übertritt man ihn, schreien Aufpasser: Nicht über die grauen Linien treten! Allerdings gibt es einen Gang zwischen dem Maschinentrakt und den Anzügen, da kann man das Zeug ungestraft anfassen. Es gibt immer Neben-, Gegen- und Auswege. Nicht über die grauen Linien treten! Das ist die Kernaussage der dOCUMENTA (13). Vergesst es!
Nachbemerkung: Ich habe beim Besuch der dOCUMENTA (13) meine erst wenige Monate alte Brille verloren. Fazit: Zu viel Kunst schadet den Augen.