Hammoudi ist ein junger Arzt mit besten Karrierechancen in Paris, wo er mit der schönen Jüdin Claire zusammen lebt. Für die Verlängerung seines Passes muss er nach Damaskus reisen, eigentlich eine Formsache.
Amal ist eine Schauspielstudentin mit guten Aussichten, ein Star zu werden. Doch sie engagiert sich in den Protesten gegen den Diktator Baschar al Assad. Hammoudi, der keinen neuen Pass bekommt, ebenso. Die dramatischen Schickale der beiden Hauptfiguren in Olga Grjasnowas neuen Roman “Gott ist nicht schüchtern”, die sich nur zweimal kurz begegnen, nehmen ihren Lauf.
Es ist ein brennendes, ein akutes Thema. Die Schriftstellerin hat persönlich damit zu tun, schreibt nicht über die syrische Tragödie, um dem Zeitgeist zu dienen. Ihr Mann ist Syrer.
Die vier Jahre von den ersten Demonstrationen bis zum ausweglos erscheinenden Kampf Jeder gegen Jeden werden schonungslos geschildert. Leider werden genau die Leute, die in allen Flüchtlingen Invasoren sehen, das Buch nicht lesen. Es könnte ihr Weltbild erschüttern. Im Vergleich zu Assads Polizei, Armee und Geheimdienst erscheinen die ehemaligen Machtorgane der DDR geradezu als menschlich, so schwer eine solche Kennzeichnung auch fällt. Die Protestierenden werden gefoltert, vergewaltigt oder gleich auf offener Straße erschossen. Amal muss es hinnehmen, dass sich auf dem Balkon ihrer Wohnung ein Scharfschütze postiert, und auch, dass eine Verbrechertruppe im Staatsauftrag sie ausplündert.
Auch wenn Olga Grasnowa die Vorgeschichte nur andeutet, wird klar, warum viele Syrer den Aufstand riskierten. Zugleich wird deutlich, dass es eine Revolte der Mittelschicht ist. Viele Grausamkeiten deutet sie nur an. Das ist gut so. Mehr Details sind nicht nötig. Zugleich erkennt man das Versagen der sogenannten Internationalen Gemeinschaft. Auf drastische Weise wird das illustriert, als Hammoudi unter ständiger Lebensgefahr in die Türkei fährt, um die angebliche Hilfslieferung einer NGO mit medizinischem Material abzuholen. Nach stundenlangem bürokratischen Durcheinander bekommt er zwei kleine Kartons – gefüllt mit Kondomen unterschiedlicher Geschmacksrichtungen.
Sowohl Hammoudi als auch Amal und ihr Partner Youssef haben letztlich keine andere Wahl mehr, als zu flüchten. Während sich für Amal nach der Zwischenstation Beirut in Deutschland neue Möglichkeiten ergeben, wenn auch psychisch gebrochen, wird Hammoudi während des Asylverfahrens von Berlin in ein provinzielles Lager verlegt. Nach dem Anschlag von Dorf-Nazis heißt es trocken: “Die Lokalzeitung wird später berichten, es habe nur ein einziges Opfer gegeben.” Und: “Über ihn selbst werden die Leser nichts erfahren, außer seinem Alter und seiner Nationalität.”
War der Aufstand gegen Assad nötig und sinnvoll? Eine arrogante Frage. Den Bürgern der DDR und anderer osteuropäischer Staaten ging es vergleichsweise gut, trotzdem wagten sie 1989 den Umbruch, der ebenso im blutigen Chaos hätte enden können. Youssef aber stellt die Frage selbst. Er erzählt Amal von seinem Gefängnisaufenthalt, wo einer der Mitinhaftierten sich zum Herrscher der Zelle aufschwang und genügend Lakaien fand. Diktatoren wachsen nach.
So wichtig der Stoff ist, muss jedoch auch die Frage der literarischen Qualität des Buches stehen. Die Sprache ist nüchtern beschreibend, also passend zum Thema. Insgesamt aber kommt der Eindruck auf, dass es mehr eine lange Reportage zu sein scheint als ein Roman mit entsprechender Niveauverschiebung. Ein handwerkliches Manko ist, dass man gegen Ende erst darauf hingewiesen wird, dass in der Erzählung vier Jahre vergangen sind. Es scheint beim Lesen nur ein einziges gewesen zu sein. Das größte Problem aber ist, dass die Hauptpersonen auf der gleichen Seite stehen. Es gibt Antagonisten und auch Zwischenfälle. So Amals Vater, der durch Geschäfte mit geraubten Antiquitäten aus Palmyra reich geworden ist, seiner Tochter trotzdem hilft. Oder ihre opportunistische Freundin Luna, deren Vater selbst im Machtapparat tätig ist. Doch diese Gegenspieler bleiben farblos, werden nur skizziert. Somit ist der Erzählstrang im Endeffekt ziemlich linear und eindimensional.
Olga Grjasnowa hat mit “Der Russe ist einer, der Birken liebt” ein beeindruckendes Debüt geliefert. Auch wenn Mascha, die Heldin dieses Buches, nicht mit der Schriftstellerin zu verwechseln ist, so hat sie doch viel gemein mit der russischen Jüdin aus Aserbaidschan, die nach der Übersiedlung in Deutschland Arabistik studiert. Die Suche nach Identität, nach dem eigenen Platz in dieser verschrobenen Welt, wird darum sehr überzeugend dargestellt. In “Gott ist nicht schüchtern” muss Grjasnowa trotz Recherchereisen auf die Erfahrungen anderer zurückgreifen, so nahe diese ihr auch persönlich stehen mögen. Daraus einen anspruchsvollen Roman zu machen, gelingt nicht ganz.
- Ein privates Blog von Jens Kassner zu Kunst, Literatur, Politik, Alltag und anderen Themen
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Es ist ein riesiges Problem, unter den Invasoren die Flüchtlinge auszusieben …
Denn sowas gibt es auch: https://heise.de/-3712210
GvH