Mambrins güldener Helm

Don Quixote, edler Ritter der Mancha. Kennt doch jeder. Wirklich? Ich habe schwarzweiße Bilder einer Fernsehserie im Hinterkopf, die ich als Kind mal gesehen habe. Eigentlich ist mit davon nur die Szene in Erinnerung geblieben, wo er zum Ritter geschlagen wird. Vielleicht wegen der Absurdität, dass eine Erhöhung durch einen Schlag besiegelt werden soll. Im Schullesebuch waren auch einige Ausschnitte vertreten, so etwas wie ein Best of.

Im Alter von über 50 Jahren habe ich mich durchgerungen, das Buch endlich mal komplett zu lesen. Oder die zwei Bücher, die in der von mir benutzten Ausgabe des Reclam-Verlages Ost aus DDR-Zeiten in der Übersetzung Ludwig Tiecks auf vier Büchlein verteilt sind. Immerhin 1200 dicht bedruckte Seiten. Cervantes! Don Quixote! Das gilt ja, neben den Shakespeare-Dramen, immerhin als der Startpunkt der modernen europäischen Literatur. Das muss man gelesen haben, will man als Bildungsbürger oder gar Intellektueller gelten.

Es war eine Qual. Fast zwei Jahre habe ich zur Lektüre gebraucht. Natürlich nicht am Stück. Da kamen andere, mehr oder weniger schöne, Bücher dazwischen. Und nach jedem der vier Teilbände brauchte ich eine richtige Pause. Ja, auch nach dem vierten. Das ist nun schon fast ein halbes Jahr her, nun mache ich mich endlich an die Auswertung.

Ich weiß, es ist kein mittelalterlicher Ritterroman, sondern genau das Gegenteil – die Parodie dieser im 16. Jahrhundert schon veralteten Literaturgattung. Dennoch. Es ist ein Ritterroman. So wie manche Parodien auf Action Movies aus Hollywood eben auch Action Movies sind. Hinzu kommt, dass sich die Humorauffassung schon in den letzten Jahrzehnten deutlich gewandelt hat. Seh ich mir Sketche von Preil & Herricht an, weiß ich nicht mehr, wie ich darüber in den Siebzigern lachen konnte. Der Humor von Cervantes ist mir noch etwas ferner. Und sein ausschweifender Redeschwall.

Bemerkenswert sind allerdings die Kniffe, mit denen Miguel de Cervantes sich als Autor aus der Verantwortung entlassen will. Ausgerechnet ein Araber – Cide Hamete Benengeli – sei der eigentliche Autor des Werkes, er habe es nur übersetzen lassen. Cervantes taucht sogar selbst als Nebenfigur im Text auf. Im zweiten, zehn Jahre später erschienenen, Teil aber kann er seinen Ärger über den anonymen Nachahmer des erfolgreichen Originals nicht unterdrücken und muss über diese frühe Verletzung des Urheberrechts, als es dieses noch gar nicht gab, immer wieder schimpfen.

In einem Katalog, herausgegeben von der Kunsthalle der Sparkasse Leipzig, habe ich erst vorige Woche etwas von „sinnentleerter Don-Quichoterie“1 gelesen. Vor der anstrengenden Lektüre hatte auch ich, wohl durch unzählige Anspielungen in Literatur und Bildkunst vermittelt, das Bild von D.Q. als einen weltfremden, aber gutmütigen Trottel. Welch ein Irrtum!

„Herr Irrender“ sagt ein Ziegenhirte zu D.Q.2 und trifft damit versehentlich den Kern der Sache. Dem Berufsstand der Irrenden Ritter will der Herr gern angehören, durch das Land ziehen auf der Suche nach Bewährungsproben, imaginäre Kämpfe ausfechten um der ebenso imaginären Dame Dulcinea die Ehre zu erweisen. Um diesem nicht nur verloren gegangenen, sondern nie in dieser Form existenten Ideal der verschlungenen Ritterromane zu entsprechen, muss sich D.Q. eine Welt zurechtlügen. Für ihn ist eine schäbige Dorfkneipe ein Kastell, eine Schafherde ein feindliches Heer. Dass ihn die ersten Anzeichen der Moderne, so wie etwa eine mit Wasserkraft betriebene Walkmühle, zutiefst beunruhigen, ist verständlich. Doch sein Eskapismus als Reaktion darauf macht ihn zum Prototypen der bornierten Antimodernisten bis in die Gegenwart. Auch diese kommen nicht ohne ein selbstgebasteltes Weltbild aus, das vorn und hinten nicht stimmt.

So nennt sich Alonso Quixano eben erst einmal Don Quixote, klingt ja besser. Sodann erfindet er die Herzensdame. „Sie hieß Aldonza Lorenzo und schien ihm tauglich, ihr den Titel der Herrin seiner Gedanken zu geben. Er suchte nun einen Namen, der dem seinigen etwas entspräche und der auch Fügung und Richtung zu einer Prinzessin und Herrscherin nähme, und er nannte sie daher Dulcinea von Toboso, denn sie war aus Toboso gebürtig: ein Name, nach seinem Urteil, musikalisch, fremdtönend und bezeichnend wie alle übrigen, die er zu seinem Gebrauche erfunden hatte.“3 Auf die gleiche Weise biegt er sich, sehr zum Erstaunen des ungebildeten Bauern Sancho Pansa, die Umwelt zurecht: „Indem die Sachen so standen, geschah es, daß ein Schweinschneider in die Nähe der Schenke kam und, indem er sich näherte, vier- oder fünfmal auf seiner Pfeife blies. Dies bestätigte Don Quixote völlig darin, daß er sich in einem berühmten Kastell befinde, daß man ihn mit Musik bediene, der Stockfisch Forelle sei, das Brot feine Semmel, die Huren Damen und der Schenkwirt Kastelan des Kastells; und somit hielt er den Anfang seines Auszugs für glücklich genug.“4

Auf analoge Weise kommt der Ritter von der traurigen Gestalt – so seine Eigenbezeichnung – zu seinem „Helm“. Als er in offener Landschaft einen Menschen trifft, der etwas Glänzendes auf dem Kopf trägt, ist er sich sicher, dass es der goldene Helm des legendären Riesen Mambrin sei. Sancho Pansa, der simple Dörfler, erkennt, worum es sich eigentlich handelt: „Mein´ Seel´! Ein köstliches Bartbecken, unter Brüdern ist es einen Taler wert.“5 Der irrende Ritter – den auf dem Weg zu einem Kunden im Nachbardorf reitenden Barbier hat er auf gewohnt rabiate Art mit der Lanze angegriffen – lässt sich von Sanchos Gerede nicht abschrecken. Auch wenn die Schüssel schon halb kaputt ist, setzt er sie auf den Kopf, um Mambrins Kräfte zu erlangen. „Scheine dieser Helm aber, was er wolle, für mich, der ich ihn kenne, ist diese Verwandlung ohne Bedeutung, überdies will ich ihn im ersten Orte, wo sich ein Schmied befindet, fertigmachen, und zwar so, daß ihn jener Helm nicht übertrifft, ja ihm nicht einmal gleichkömmt, den der Gott der Schmiede für den Gott der Schlachten arbeitete.“6 So kam es also, dass der edle Ritter der Mancha mit einer gesprungenen Barbierschüssel auf dem Schädel die gleichermaßen selbst erfundenen Gegner bekämpfte.

Auch wer das Buch nicht gelesen hat, kennt zumindest die Episode mit den Windmühlen. Stets auf der Suche nach gewaltsamen Auseinandersetzungen, kommen D.Q. und sein Knappe zu einem Feld mit dreißig bis vierzig Windmühlen. „Das Glück führt unsre Sache besser, als wir es nur wünschen konnten, denn siehe, Freund Sancho, dort zeigen sich dreißig oder noch mehr ungeheure Riesen, mit denen ich eine Schlacht zu halten gesonnen bin und ihnen allen das Leben zu nehmen; mit der Beute von ihnen wollen wir den Anfang unsers Reichtums machen, denn dies ist ein trefflicher Krieg und selbst ein Gottesdienst, diese Brut vom Angesichte der Erde zu vertilgen.“7

Er vertilgte die „Brut“ nicht, sondern wurde von einem Mühlenflügel heftig zu Boden geschleudert. Obwohl er sich in den Auseinandersetzungen mit seinen „Feinden“ immer wieder mehr oder weniger schwer verletzte, war die Gewalt ihm Selbstzweck. Auch Tote nahm er in Kauf in seinem unermüdlichen Ringen um die Ehre. Einem reisenden Puppenspieler zerschlägt der rasende Idiot die „Mohren“, welche doch die einzigen Arbeitsmittel des Spielers sind.8 Und ein Bauernbursche, dem er auf seine spezifische Art zu Hilfe kam, flehte: „Ich bitte euch um Gottes Willen, Herr irrender Ritter, wenn ihr mich einmal wiederfindet und auch sähet, daß man mich in Stücke hauete, so kommt mir doch ja nicht zu Hülfe oder leistet mir Beistand […]“9

Don Quixote ist kein verschrobener, aber sympathischer Held. Er ist ein Arschloch. Cervantes´ Figur des aus der Zeit gefallenen irrenden Ritters ist das Musterbeispiel des Reaktionärs, der seine Konservative Revolution mit allen Mitteln umsetzen will und sich dafür ein Weltbild herbeifantasiert. Darin gleicht er in verblüffendem Ausmaß seinen heutigen Brüdern im Geiste. Wenn 600 Legida-Anhänger, darunter etliche gewaltbereite Hooligans, auf dem Augustusplatz rufen „Wir sind das Volk!“ und die dreifache Menge an Gegendemonstranten für bezahlte Büttel „des Systems“ halten, ist das vergleichbar mit D.Q.s Gespinsten, die aus dem Stockfisch eine Forelle machen und aus der Schafherde ein feindliches Heer. Ob Gidas, Identitäre oder Neue Rechte, sie brauchen die Verdrehung von Tatsachen und das Halluzinieren von Scheinwelten. In ihrem Kampf gegen die Moderne, so wie sie den Begriff verstehen (ähnlich den bekannten Windmühlen), sind sie allesamt Ritter von trauriger Gestalt und haben einen Riss in der Schüssel.

1Ralf F. Hartmann über Andreas Grahl in: Nocturne. Hg. Von der Kunsthalle der Sparkasse Leipzig, 2015, S. 18.

2Miguel de Cervantes, Leben und Taten des scharfsinnigen Edlen Don Quichote von la Mancha, Leipzig: Reclam 1987, Bd. 1, S. 99.

3Ebenda S. 30.

4Ebenda S. 36.

5Ebenda S. 185.

6Ebenda.

7Ebenda S. 68.

8Ebenda Bd. 3, S. 224.

9Ebenda Bd. 1, S. 324.

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