Die vier Autoren des Buches Der Kulturinfarkt mussten in den vergangenen zwei Wochen in diversen Medien schon viel Kritik einstecken, unter anderem mit dem Hinweis auf die bescheidenen Ausgaben für Kultur in Deutschland im Verhältnis zu anderen gesellschaftlichen Bereichen. Gegen den Widerspruch des Deutschen Kulturrates erließen die Autoren sogar eine gerichtliche Verfügung. Nun gibt es auch noch einen offenen Brief diverser Promis aus der Szene. Viel Aufregung also. Doch sind die Befunde von Haselbach, Klein, Knüsel und Opitz wirklich so haltlos, ihre Vorschläge so abwegig?
Das Buch hat viele Schwächen, von denen die gravierendsten aus der politischen Grundhaltung der vier Schreiber resultieren. So wird Kultur in erster Linie als Ware verstanden. Auch wenn sie das häufig ist, lassen sich doch die Erzeugnisse in ihrer Spezifik mit keiner anderen Ware vergleichen. Gerade da, wo sich die Infarktdiagnostiker ausnahmsweise auf Marx berufen, versagt dessen Definition des Mehrwertes kläglich. An dieser Frage hat sich schon der Marxist Peter Hacks in Schöne Wirtschaft vergnüglich abgearbeitet. Doch für HKKO als bedingungslose Apologeten eines ungefesselten Marktes ist selbst das gegenwärtig unübersehbare Totalversagen (Infakt?) der neoliberalen Wirtschaft kein Grund, davon abzulassen. Im Gegenteil: Die Kritiker des Marktes haben seit der Bankenkrise Oberwasser. Das ändert nichts daran, dass es zum freien Spiel der Kräfte keine Alternative gibt. (S. 236) Das Wort alternativlos müsste am besten der internationalen Ächtung unterliegen, so gefährlich ist es. Diese Ignoranz ist jedenfalls vielsagend. Die staatlichen Rettungsprogramme für Banken, aber auch für die allseits geliebte Autoindustrie sind wesentlich umfänglicher als sämtliche Kulturgroschen. Und gerade dabei gilt die Unterzeile des Buches Von allem zu viel und überall das Gleiche voll und ganz (viel zu viele Neuwagen, die sich immer mehr ähneln), bei einer drastisch höheren Ressourcenvernichtung.
Unscharf ist das begriffliche Instrumentarium. Zwischen geförderten Projekten und kommunalen oder staatlichen Eigenbetrieben im Kultursektor wird nicht unterschieden, alles gilt als „gefördert“, wenn nicht gar als subventioniert. Und dann kommt auch noch die Kultur- und Kreativwirtschaft ins Spiel, die als Wirtschaftsbranche mit den Instrumentarien der Kulturförderung generell nicht kompatibel ist. Grotesk wird die Verwischungsarbeit, wenn zunächst die Soziokultur gründlich demontiert wird (die Argumentation erinnert stellenweise an die Behauptung des Leipziger Kulturdezernenten Faber, die Freie Szene sei ein Kompensationsraum für Problemgruppen), um dann mit dem unsäglichen Begriff der Laienkultur eine schmerzliche Auferstehung erleben zu müssen. All den Schwerstarbeitern dieses Bereich, die es halbwegs geschafft haben, das Image von „Aufbaukeramik + Seidenmalerei für Hausfrauen auf dem Selbsterkennungstrip“ abzustreifen, wird dank dieser Argumentation mit ergiebigem Strahl ans Bein gepisst. Ein Verdienst hätten sich HKKO hingegen durch die Auseinandersetzung mit dem Etikett Hochkultur erwerben können, das bleibt allerdings aus. Statt dessen soll eine Massenkultur nobilitiert werden, die sich an Hollywood und anderen Unterhaltungsfließbändern orientiert. Auch in dieser Hinsicht werden sich alle für dieses Friendly Fire bedanken, die seit langem um eine Anerkennung anspruchsvoller Popkultur jenseits der Traumfabriken ringen.
Fern der Realität wirken einige Charakterisierungen spezieller Mechanismen der einzelnen Kulturbranchen, auf deren Differenzierung ohnehin erst weit hinten im Buch eingegangen wird, zu weit hinten, um vorherige Passagen überhaupt einordnen zu können. So dürfte wohl Bewertung von Literaturpreisen und anderen Unterstützungen dieser Sparte in ihrer Wirkung auf die Buchproduktion maßlos überzogen sein. Ebenso der Einfluss öffentlicher Museen auf die Erzeugung von Bildender Kunst. Nach ICOM-Definition stehen für Museen Sammeln, Bewahren und Forschen an oberster Stelle der Aufgabenhierarchie, erst dann Ausstellen und selbst das nicht mit dem Schwerpunkt der Talenteentdeckung. Hinzu kommt das weitgehende Fehlen ernst zu nehmender Ankaufetats der meisten Häuser. Der Kunstmarkt ist gerade das Musterbeispiel dafür, wie ein Sektor der Kultur von staatlicher Kulturpolitik weitgehend unbeleckt bleibt. Wenn die Autoren dann trotzdem das Fehlen von Innovationen beklagen, ist das eher ein Indiz dafür, dass die Ermüdung der Avantgarde nicht der offiziellen Kulturpolitik angelastet werden darf.
Und schließlich kommen punktuell Zweifel am Fachwissen der Experten auf, so wenn etwa die Neue Musik als typische Erscheinung der 1980er Jahre verortet wird oder ästhetische Theorie der Postmoderne als Ausfluss der 68er-Bewegung erscheint.
Aber, nach dieser lang geratenen und noch lange nicht vollständigen Mängelliste, muss ein großes Aber kommen. Dieses wird später durch kleine Gegen-Abers partiell wieder angeknabbert, muss aber vorläufig unübersehbar aufgetürmt werden. ABER:
Soll die Struktur und Funktion von Kulturausgaben der öffentlichen, sich gegenseitig waschenden Hände denn so bleiben, wie sie ist? Da müssen doch wirklich etliche Fragezeichen dahinter gesetzt werden.
Das böse Wort Besitzstandswahrung ist tatsächlich eine Haupttriebkraft vieler Akteure zur Erhaltung des gegenwärtigen Zustandes von Kulturausgaben des öffentlichen Sektors, ohne nach der Sinnhaftigkeit, der Qualität und dem Bedarf zu fragen.
Es existiert eine Zwei- oder Dreiklassenschichtung in der Kultur. In den kommunalen und staatlichen Häusern arbeiten die Beschäftigten unter den recht komfortablen Konditionen des Öffentlichen Dienstes. Für ihre Gehaltserhöhung müssen sie nicht streiken, das machen mit höherer medialer Wirksamkeit die Müllmänner und Kindergärtnerinnen. Allerdings besteht auch hier die Ungerechtigkeit, dass die eigentlichen Kreativen schlechter gestellt sind als technische und Verwaltungsangestellte. Trotzdem noch viel besser als die Akteure der Freien Szene, wo trotz Förderung Einkommenslage, Sicherheit, Wertschätzung viel geringer ausfallen. Die Relationen werden u.a. daran sichtbar, dass in Leipzig etwa 50 Prozent aller Kulturbesuche in der Freien Szene stattfinden, um das Ziel, ganze fünf Prozent vom städtischen Kulturhaushalt abzubekommen, jedoch immer noch hart gekämpft werden muss. Genau dort passiert aber noch am ehesten, was man unter „Kultur für alle“ verstehen könnte – teilweise auf einem Qualitätsniveau, an das viele Verdi-Mitglieder nicht heranreichen. Die Arbeiter der Kultur- und Kreativwirtschaft schließlich sind noch häufiger in prekären Lebenssituationen, auch wenn ein kleiner Kreis von ihnen zu den Großverdienern gehört. Neben den messbaren Ungleichstellungen kommen subjektive Wertungen hinzu. Auch wenn es Quatsch ist, dass alles nicht geförderte quasi als Unkultur angesehen wird, wie HKKO leichtfertig behaupten, ist die definitorisch kaum fassbare, doch allgegenwärtige Etagenbildung nicht mit dem Ideal einer Gesellschaft der Chancengleichheit vereinbar. Die pauschale Einordnung von Produktionen kommunaler und staatlicher Häuser als sogenannte Hochkultur in Abhebung vom großen Rest ist ein Mittel zur Zementierung sozialer Schichtungen. Wieso muss man für die Karte zum Bob-Dylan-Konzert 100 Euro oder mehr bei einem privaten Anbieter bezahlen, während jede Karte für „Der Graf von Luxemburg“ in einem städtischen Haus hoch subventioniert wird. Bitte jetzt kein Einwand, dass Dylan ja primitive Massenkultur sei!
Richtig ist das Argument der Autoren,dass es eine Überproduktion an Kunst gibt. Zwar tut die weniger weh als in anderen Branchen, doch muss sie nicht zwangsläufig mit Steuermitteln unterstützt werden. Viele Förderprogramme dienen wirklich nicht der Qualität von Kunst, sondern der sozialen Existenzsicherung von Künstlern. Dies könnte aber effektiver und gerechter mit einem Umbau anderer Art erreicht werden, etwa dem Bedingungslosen Grundeinkommen (dessen Idee die Autoren auf geradezu denunzierende Weise verkennen oder absichtlich falsch darstellen) und dem Ausbau der Künstlersozialkasse.
Schwer zu entkräften ist auch die Behauptung, dass Doppelstrukturen in der Kulturverwaltung existieren wie auch ein kaum durchschaubarer Dschungel der Förderlandschaft. Wer je für freie Projekte Anträge gestellt und nach Gewährung von Mitteln diese abgerechnet hat, weiß das. Manche Vorschriften von Förderprogrammen sind regelrecht kontraproduktiv. So darf kein Überschuss erwirtschaftet werden, der würde die Fördersumme reduzieren. Eine Umverlagerung von Mitteln durch gutes Wirtschaften und hohen Erfolg für künftige Projekte ist unzulässig.
Die größte Aufregung gibt es aber über die Forderung der Kulturinfarkt-Autoren, die Hälfte aller geförderten Einrichtungen zu schließen (meinen sie damit Eigenbetriebe oder Zuschusseinrichtungen?) Das ist in der Dimension nicht vertretbar und auch in dem Schematismus der Neuverteilung Blödsinn. Die Polemik gegen Gießkannen wird dann gerade von Kleingärtnern geführt. Trotzdem: Die Schließung von Häusern inklusive der Sprengung von Hochhäusern ist sinnvoll, um andere besser ausstatten zu können. Bezeichnend ist die gegenwärtige Diskussion um die Zukunft der Musikalischen Komödie, kurz Muko, in Leipzig. Die nicht ganz abwegige Idee einer Privatisierung – Operette und Musical gehören in anderen Städten zu den wenigen profitabwerfenden Sparten – wird praktisch gar nicht erwogen. Die FDP schlägt eine Zusammenlegung mit der Oper vor, die Grünen wollen eine Implementierung ins Centraltheater. Die Linke hingegen macht sich für den Erhalt und die bauliche Sanierung einer Einrichtung stark, wo Rührstücke aus der Welt des untergehenden Adels das Repertoire dominieren.
Doch selbst bei der Oper muss die Frage zulässig sein, wie viele Bühnen mit festem Ensemble in einem Umkreis von 100 Kilometern benötigt werden (bezüglich Leipzig sind das fünf). Wenn die Autoren zur Oper schreiben: Noch immer ist sie bürgerliche Verschwendung, ein europäischer Potlach (S. 26), klingt das sehr polemisch, ist aber nicht ganz daneben. Die Vielfalt des Angebots besteht beispielsweise darin, dass es in der Spielzeit 2008/09 in Deutschland 52 Inszenierungen der „Zauberflöte“ gab. Wie viele sind noch nötig? „Hänsel und Gretel“ brachten es „nur“ auf 33 Inszenierungen, „Die Hochzeit des Figaro“ auf 21, „Don Giovanni“ auf 20, „Tosca“, „Carmen“ und „Freischütz“ je auf 19. Ist es wirklich ein Tabu, diese jeweils mit enormen Finanzmitteln – andere Kultursparten einer Großstadt haben ein kleineres Gesamtetat für das ganze Jahr – verbundenen Inszenierungen als Überfluss zu bezeichnen?
Ja, Haselbach, Klein, Knüsel und Opitz haben recht damit, dass unser System der Kulturfinanzierung gründlich geprüft werden muss bis hin zum Verzicht auf Einrichtungen. Nein, sie liegen völlig daneben mit ihrer Glorifizierung der Quote und anderen neoliberalen Lobeshymnen auf den entfesselten Markt. Mit dieser Wahl der ungeeignetsten Mittel werden sie, wie die bisherigen Reaktionen verdeutlichen, eine sachliche Diskussion des Themas leider mehr verhindern als befördern.