Jetzt noch wertvoller

Vor wenigen Tagen erschien mein Artikel zur sogenannten Hochkultur im Monatsblatt Leipzigs Neue, leider ohne Fußnoten. Bei solch einem Text mit Zitaten erscheint mir das aber nötig. Darum hier nochmal vollständig:

Die Chimäre Hochkultur

Schwierigkeiten beim Fassen eines ganz und gar bürgerlichen Begriffs

„Überquert die Grenze, schließt den Graben!“ nannte sich ein berühmt gewordener Aufsatz des amerikanischen Literaturwissenschaftlers Leslie A. Fiedler1, der 1969 erschien – nicht in einer Fachzeitschrift, sondern im „Playboy“. Fiedler rief darin auf, die Differenzen in der Gewichtung zwischen angeblich hoher und niederer Kultur zu beseitigen. Zur gleichen Zeit machten die „cultural studies“ marxistisch orientierter Theoretiker Furore, ausgehend von Birmingham zunächst in Großbritannien, dann in den USA und anderen westlichen Ländern. Auch darin wird den kulturellen Ausdrucksweisen breiter, nichtprivilegierter Bevölkerungsschichten die Hauptaufmerksamkeit geschenkt.

Seitdem hat sich im allgemeinen Kulturverständnis viel geändert, in der alltäglichen Praxis noch mehr. Das zeigt sich unter anderem darin, dass die führende deutsche Kunstzeitschrift „Art“ in ihrer Aprilausgabe 2010 titelt: „Pop – Die beste Idee des 20. Jahrhunderts“.

Dennoch schleicht sich durch den allgemeinen Sprachgebrauch nach wie vor der seltsame Begriff Hochkultur. Ginge es nur um die Sprache, wäre das nicht allzu wichtig. Das Überleben dieses Phantoms hat aber gravierende Auswirkungen auf die Kulturpolitik aller Ebenen. „Es gibt sie noch, die feinen Unterschiede“ ist ein Interview mit dem Elitenforscher Michael Hartmann überschrieben.2 Damit wird auf den Titel des bekannten Buches „Die feinen Unterschiede“ des Soziologen Pierre Bourdieu angespielt, das aufbauend auf empirische Untersuchungen aus den 1960er Jahren die Rolle der sogenannten Hochkultur zur Herrschaftssicherung in der bürgerlichen Gesellschaft darstellt un in diesem Zusammenhang den Begriff „kulturelles Kapital“ einführt. Hartmann betont, dass Kultur nicht nur etwas Verbindendes und Integrierendes hat, sondern auch trennen kann: „Alle, die sich beispielsweise für die Hochkultur stark machen, legen auch Wert auf dieses Distinktionsmerkmal.“ In dieser Hinsicht stellt er gegenwärtig – analog zur Demontage des Sozialstaates – sogar ein gewisses Rollback fest: „Die Repräsentanten und Verfechter der Hochkultur drängen wieder sehr viel stärker auf Abgrenzung und bemühen sich um die erneute Installation eines verbindlichen hochkulturellen Kanons.“3

Auffällig ist aber, dass es für den Begriff Hochkultur keine befriedigenden Definitionen gibt, die positive Erkennungsmerkmale aufführen. Vielmehr basieren die Erklärungsversuche eben – wie von Hartmann hervorgehoben – auf Abgrenzung: zur Massen-, Trivial- oder Populärkultur. Die Verwirrung komplettiert sich, wenn man nach Definitionen für jene Schubladen sucht und dann darauf verwiesen wird, dass diese eben keine Hochkultur seien.

Vielleicht kann eine empirische Annäherung helfen. Was wird in den Medien gemeinhin als Hochkultur etikettiert? Klassische Musik generell. Doch auch hier gibt es schon Differenzierungen, die nach quantitativen Kriterien zu funktionieren scheinen: Je größer ein Ensemble, um so wertvoller. Die besonders material- und arbeitskraftintensive Oper ist der Inbegriff von Hochkultur schlechthin. Die populäre Musik, so hochentwickelt sie in manchen Bereichen auch sein mag (und dann schon gar nicht mehr allzu populär, eher Minderheiten ansprechend) ist keinesfalls dabei, ebensowenig die interkulturelle Weltmusik. Vom Jazz werden nur die Versionen zaghaft eingeschlossen, die nicht massentauglich sind. Schwierig ist es mit der Neuen Musik. Theoretisch müsste sie dazu gehören, ist aber leider auch nach hundert Jahren Geschichte für großbürgerliche Ohren immer noch zu spröde.

Schwieriger wird es bei den anderen Sparten. Theater scheint normalerweise dabei zu sein, sofern es staatlich oder kommunal finanziert ist. Und – genauso wichtig – wenn sich der Intendant dieser „moralischen Anstalt“ eben an den tradierten Kanon der Auswahl von Stücken und an gewohnte Weisen ihrer Inszenierung hält. Kleine Abweichungen seien verziehen. Aber keine großen. Off-Theater bleibt natürlich außen vor, ebenso freie Tanz-Companies.

Ganz kompliziert wird es in Literatur, Film und Bildender Kunst. Wie der oben zitierte Art-Titel schon zeigt, ist in der Bildkunst Pop schon lange akzeptiert und hängt in allen großen Museen der Welt. Sogar die eigentlich illegale Streetart mit ihren anonymen Schöpfern erfreut sich gerade erhöhter Aufmerksamkeit des kommerziellen Kunstbetriebes.

In der Literatur gibt es den Begriff der Höhenkammliteratur. Diese wird überwiegend durch die Shortlists der großen Buchpreise umrissen. Aber dahin schaffte es eben vor kurzem Helene Hegemanns umstrittenes Debüt „Axolotl Roadkill“ – ein echtes Popgewächs. Ein sauberes Biotop der sublimen Anbetung gibt es allerdings: Gegenwartslyrik von der Sorte, die mit den renommierten Preisen dieses Genres bedacht wird. Gerade an diesem Feld lassen sich nun doch zwei Merkmale festmachen, die in keinem offiziellen Definitionsversuch vorkommen: Humor ist völlig ausgeschlossen und Verständlichkeit erscheint zumindest verdächtig. Um diesen Zirkel rein zu halten, sind die diesjährigen Lyrikpreisträger die Juroren des nächsten Jahres.

Wie fragwürdig Unterteilungen in Hoch- und Massenkultur oder E- und U-Musik sind, zeigt eine Persönlichkeit wie Nigel Kennedy. Als er im vorigen Sommer auf dem Augustusplatz spielte, soll einigen Ehrengästen das Gesicht eingefallen sein, da er verkündete, an diesem Abend nicht „the fucking Bach“ zu geigen, sondern seine eigenen Stücke. Als Zugabe interpretierte Kennedy schließlich ein Stück des Rockheroen Jimmy Hendrix. In welche Schublade soll man ihn also stecken? Nigel Kennedy mag ein herausragendes Beispiel sein, doch solche Grenzgänger und Vermischer gibt es heute viele.

Über inhaltliche und stilistische Kriterien lässt sich die sogenannte Hochkultur also schon lange nicht mehr einhegen. Doch es gibt eine funktionale Komponente, die den Begriff für die selbsternannte Elite unverzichtbar macht. Der tschechische Kulturwissenschaftler Jan Tabor drückt in einem Aufsatz4 unmissverständlich aus, dass die große Treppe im Foyer jeder Oper wichtiger ist als Bühne und Zuschauerraum und führt die „Prachtstiege“ der von Charles Garnier errichteten Pariser Oper als Musterbeispiel an. Es geht um das Gesehenwerden in Abendrobe und Ballkleid als Dokument der Zugehörigkeit zu einer Schicht, die mit dem Pöbel nichts gemein hat. Somit wird klar, warum sich keine ablesbaren Bestimmungsmerkmale für Kunstproduktionen finden lassen, die sie der „Hochkultur“ zuordnungsfähig machen. Das Event ist wichtig, die Inszenierung. Nicht die auf der Bühne, die auf der Prachtstiege. Das kann auch die Vernissage eines Malers mit hohem Marktwert sein oder der Empfang zur Verleihung eines Literaturpreises. Oder in potenzierter Form die Eröffnung eines großen Festspiels wie in Bayreuth oder Salzburg.

Als noch der Adel herrschte, war klar, was Hochkultur ist. Seit dem ökonomischen und politischen Triumph des Bürgertums versucht dieses, trotz aller Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit die (zu seinem Gunsten verschobene) Grenze aufrechtzuerhalten. Wie schon immer, sind gesellschaftliche Aufsteiger am eifrigsten bei diesem ideellen Mauerbau. So verwundert es nicht, dass auch linke Kulturpolitiker sich in Strategien im Umgang mit dem großen Rest der Kultur, welcher nicht für die breite Treppe taugt, üben. Das ist in einer Variante die Meinung, Massenkultur sei einerseits die Belohnung für den wertschöpfenden und angepassten Teil der Unterschichten und andererseits ein Betablocker für die echten Randgruppen. Die mehr aufgeklärt daherkommende Variante sieht in der Basiskultur ein Lernfeld, aus dem die Begabtesten aufsteigen können zu Opernkartenabonnenten und Sekttrinkern bei Vernissagen oder gar selbst zu anerkannten Kunstproduzenten. Beide Strategien tragen letztlich dazu bei, die „feinen Unterschiede“ zu zementieren. Kulturprojekte können eigentlich nur nach der Trägerschaft in öffentlich/gemeinnützig/kommerziell unterschieden werden. Höhen und Tiefen gibt es in allen drei Varianten. Eine linke Kulturpolitik, die dieses Attribut verdient, sollte den aalglatten Begriff Hochkultur nicht nur meiden, sondern gemäß Leslie Fiedler eben die Grenzen überschreiten und die Gräben zuschütten. Will man die Verhältnisse zum Tanzen bringen, wie Marx es ausdrückte, eignen sich weder Menuett noch Wiener Walzer, sondern eher der Pogo.

1In: Welsch, Wolfgang (Hg.). Wege aus der Moderne. Schlüsseltexte der Postmoderne-Diskussion. Weinheim 1988, S. 57ff.

2Vgl.: www.fonds-soziokultur.de/shortcut/03/news/

3Ebenda.

4Tabor, Jan: Traktat als symposionistisches Manifest über die andauernden gesellschaftlichen Dissonanzen in Musiktheatern und anderen Geschlossenen Anstalten des gutbürgerlichen An- und Stillstandes … In: Under Construction. Das Buch zu den Münchner Opernfestspielen 2009, S. 16ff.

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