Dass ich dieses Jahr nicht wieder ein Freiexemplar der Tippgemeinschaft, also der Jahresanthologie des Deutschen Literaturinstituts, mit Bitte um Rezension erhalten würde, war abzusehen. Also habe ich die Tippgemeinschaft 2011 käuflich erworben. Etwas Masochismus ist da schon dabei, hat mich doch noch keine Ausgabe seit der Erstlektüre 2004 wirklich mitgerissen.
Zunächst das statistische Vorspiel. 27 mal Prosa stehen 8 mal Lyrik und 5 mal Dramatik (im weit verstandenen Sinne) gegenüber. Auch wenn mindestens zwei der Autoren, die ich hier zur Prosa gerechnet habe, in ihre Texten gedichtähnliche Teile benutzen, ist doch der rückläufige Anteil der Lyrik nicht zu übersehen. Woran das liegt, kann ich nicht einmal vermuten. Leider fehlen diesmal Essays ganz.
Ein Vor- und ein Nachwort gibt es aber. Diese Umrahmung fällt bescheidener aus als in vorigen Bänden. Sowohl vom Umfang her als auch vom Gehalt. Im Vorwort thematisiert Jan Peter Bremer erneut die Frage der Existenzberechtigung des Literaturinstituts. Und im Nachwort, das sich eigentlich Lautgedichten widmen soll, kommt auch Valeri Scherstjanoi auf die – warum eigentlich? – unvermeidliche Frage, ob man literarisches Schreiben lehren und lernen könne. Diese Minderwertigkeitskomplexe gehen nun wirklich langsam auf den Keks. Wenn es so viele Zweifel am eigenen Tun gibt, dann macht die Bude doch zu! Die deutschsprachige Literatur wird deswegen nicht völlig zusammenbrechen. Welchen Dozenten der Bundeswehrakademie plagen denn solche Komplexe?
Trotzdem habe ich mich bemüht, diese neue Tippgemeinschaft mehr als bisher als einen Werkstattbericht zu lesen, nicht so sehr als ein Best Of der jungen Literaturszene. Und diese Sichtweise hat dann zu Vermutungen geführt, dass einige Texte unmittelbar Seminaraufgaben entsprungen sind. So fällt auf, dass zwei im Buch fast benachbarte Erzählungen von Olga Grasnowa und Florian Wacker das gleiche Sujet haben – der Tod eines Menschen wird parabelhaft mit dem Sterben von Tieren verknüpft. Und wenn dann auch noch David Frühauf mit Raben über einen verschwundenen Freund spricht, scheint das kaum noch Zufall zu sein.
Auch das Ausprobieren bestimmter stilistischer Mittel entspringt möglicherweise unmittelbar dem Lehrgeschehen. So etwa die Verwendung gestelzt erscheinender Formulierungen wie sagtest du bei Lisa Kreißler. Wenn dann wenige Zeilen später Jargon vorkommt (wie du dir die Eier rasierst), hätte vielleicht die Lehrkraft auf diesen nicht so gekonnten Bruch hinweisen sollen. Ähnlich bei Carola Weider. Der Leser wird direkt angesprochen in der Du-Form, auch das ein nicht überzeugender Manierismus. Und dann eine Formulierung wie etwa vier bis fünf. Sollte ein Hauptziel der Ausbildung nicht sein, zum exakten Beobachten anzuleiten? Vielleicht ist das eine Illusion von mir.
Unter den nicht so üppig vertreten Versuchen in Lyrik sind gleich drei der visuellen oder konkreten Poesie zugehörig. Zusammen mit Scherstjanois Nachwort fällt diese Häufung auf. Unter den anderen, „richtigen“ Gedichten, kann mich nur das von Babét Mader zufriedenstellen. Der Titel Fetzen ist bezeichnend. Im Kontrast zu anderen Arbeiten im Buch, die ebenfalls Fragmente aneinanderreihen, entsteht hier aber ein bestimmter Sound, zusammengesetzt aus ganz viel Alltag, eigenwilligen Wörten wie Autobahnrücken sowie Aphorismen á la Am liebsten sind mir Selbstgespräche mit anderen.
Eine Nische stellen die wenigen Texte mit dramatischem Zuschnitt dar. Eine echte Rollenzuschreibung muss es dabei nicht unbedingt geben. So stellt sich Wolfram Lotz in einer Art von absurdem Theater selbst als Trottel dar, der allein auf der Bühne agiert und von seiner Mutter in Off-Stimme beschrieben wird. Solche (Selbst)-Ironie war in der DLL-Texten der letzten Jahre kaum irgendwo zu finden. Und angenehm skurril ist Nadja Wiesers Kurzhörspiel über die Verständigungsprobleme von Mensch zu Hund. Auch der Auszug aus einem Schauspiel von Mario Salazar, das in einer Künstlerkneipe handelt, hat Ironie-Potential. Wie kommt es, dass der ansonsten fast durchweg fehlende Mut zu Anflügen von Humor gerade in diesem Genre zu finden ist?
Unter den Prosatexten ist eine Hinwendung zum realen Leben nicht zu übersehen. Die Innenschau-Texte der letzten Jahre sind rückläufig. Manche Beitrage kann man fast unter die Rubrik Reportage einordnen. Dabei fällt dann aber, manchmal, wieder der Charakter des Übens auf. So sind Hannes Beckers Reisetexte gelungene Snapshots, aber noch keine eigenständigen Erzählungen. Nett, aber nicht all zu tiefgehend sind auch Patrick Maisaros Untersuchungen nationaler Klischees aus der Sicht eines Zuwanderers.
Neben diesen und weiteren persönlichen Erlebnissen beschäftigen sich mehrere Autoren mit der Arbeitswelt im weitesten Sinne. Die öde Nachtschicht von Wachleuten im Hörspiel von Sarah Trisch (hab ich eigentlich der Dramatik zugeordnet), der Absturz eines gehobenen Angestellten mit Lifestyle-Neigung bei Tobias Hipp, Innenansichten des Kunstbetriebens bei Anna Schöning oder auch Mirko Wenigs Selbstversuch als Museumswächter – der Elfenbeinturm scheint zu bröckeln. Das finde ich gut, auch wenn manche der Texte noch etwas besser abgehangen sein dürften.
Insgesamt kann ich wieder einmal sagen, dass das Buch nicht die reinste Erfrischungslektüre war, aber einiges im Fluß zu sein scheint, der eine mir angenehme Laufrichtung hat. Und einen Text fand ich wirklich ganz stark. Janko Marklein stellt den Alltag gelangweilter Teenager dar. Er lässt die kleinen Monster selbst in einer lakonischen, fast teilnahmslosen Sprache berichten, was den Kontrast zu ihren Taten noch drastischer macht.