Aufgrund einer ausschließlich in diesem Blog erschienenen Kritik eines Buches die folgende Ausgabe gleich als Rezensionsangebot angeboten zu bekommen, passiert mir zum ersten Mal. So geschah es aber mit dem neuen Jahrbuch des Deutschen Literaturinstituts Leipzig, also der Tippgemeinschaft 2010. Doch neben der Kostenersparnis bringt dieses Entgegenkommen auch Konflikte mit sich: Darf man dem geschenkten Gaul gründlich in den Rachen schauen? Oder soll man zumindest den Herausgeber, der das edle Angebot machte, von der Kritik ausnehmen? Vielleicht kaufe ich mir das Buch im kommenden Jahr besser wieder selbst.
Habe ich bei der vorigen Anthologie die Gestaltung ganz zum Schluss lobend erwähnt, so möchte ich diesen Aspekt diesmal voranstellen. Leider fällt das Urteil nicht so wohlwollend aus. Das liegt nicht an der betonten Nüchternheit, auch gehöre ich nicht zu den nostalgischen Puristen, die serifenlose Schriften für den Brottext generell ablehnen. Doch die verwendete Type namens Akkurat macht zwar ihrem Namen alle Ehre, was aber nicht gerade zur guten Lesbarkeit beiträgt. Schlimmer noch ist aber der fast bis an die Seitenränder ausgedehnte Satzspiegel, der einen Eindruck von Agoraphobie verursacht und dem buchhaltenden Daumen keinen Platz lässt, ohne Buchstaben zu verdecken. Zudem sieht das ungestrichene, weiße Papier des Einbandes bei meinem Exemplar schon ziemlich schmuddlig aus, da ich teilweise bei Zugfahrten gelesen habe.
Doch nun zum Inhalt. Die Proportion Prosa zu Lyrik ist mit 20 zu 9 ähnlich wie gehabt (29 zu 11), doch die absoluten Zahlen zeigen schon, dass der Band dünner geworden ist – fast hundert Seiten weniger als 2009 bei größerer Schrift. Das könnte man als Krisensymptom deuten oder aber als strengeres Lektorat. Mal sehen.
Bei den Gedichten fällt mir auf, dass die in der Gegenwartslyrik so dominanten kryptisch-esoterischen Wortanhäufungen, zu denen mir jeglicher Zugang fehlt, hier kaum zu finden sind. Zwar kann ich nicht unbedingt sagen, die Poesie von Kerstin Preiwuss durchweg verstehe, dafür gibt es hier neben den eindrücklichen Bildern etwas, was heute Seltenheitswert besitzt: Rhythmus, der nichts mit der so häufigen in Kurzzeilen zerhackten Prosa gemein hat. Und sogar Reime oder ähnliches werden punktuell eingestreut. Durchaus interpretierbar (sogar für mich Lyrik-Legastheniker) sind die Arbeiten von Mirko Wenig, Michael Spyra oder Florian Adamski, ohne dass sie mich sonderlich berühren würden. Und sie gehören eben zu jener Enjambement-Prosa. Tobias Amslinger fährt mit seinen Sprachspielen fort, die nett und intelligent sind, aber so originell, um lange hängenzubleiben. Das Gedicht Parkour von Julia Dathe schließlich nimmt eine Sonderrolle ein – es wurde über das Buch verteilt. Ansonsten ist es eine ziemlich trockene Beschreibung dieser Trendportart ohne große künstlerische Verarbeitung.
Der in den letzten Jahren spürbare zarte Trend, dass die Prosa wieder welthaltiger wird, scheint bereits verflogen zu sein. Es macht fast den Eindruck, als sei es für DLL-Studenten ein Tabu, Zeitung zu lesen. Es muss ja gar nicht der Mantelteil mit der Weltpolitik sein. Auch auf der Lokalseite sind genug Stories zu finden. Stattdessen gibt es hier alle Nuancen zwischen- und innermenschlicher Verhältnismäßigkeiten. Zum Beispiel Generationenkonflikte, bei Henriette Vasarhelyi einigermaßen berührend, bei Anjo Schwarz klischeehaft, bei Jens Rudolph aber in einer seltsamen Du-Perspektive, die den Eindruck macht, als handele es sich um eine Seminaraufgabe. Wie vorgegebene Übungen wirken auch das Poetenleben von Roman Graf, wo romantische Verklärung von Schäbigkeit in gestelzter Sprache parodiert wird, sowie die Arkaden von Roman Ehrlich – zwei Seiten Augenblicksbeobachtungen in einen Satz gepackt. Wie es sich für „richtige“ Literatur gehört, ist Humor in der Anthologie Mangelware. Eine Ausnahme stellt Christian Kreis´ Geschichte vom tyrannisch-elektronischen Grabstein des Vaters dar. Dafür nimmt Surreales breiten Raum ein, so bei Anke Bastorps Ameisenkönigin oder dem märchenähnlichen Text von Choleda Jasdany. Die vielen Beziehungskisten sind teilweise abgestanden, leider auch bei Olga Grjasnowa, von der ich schon besseres gelesen habe als dieses russische Melodram. Originell ist aber die Story von Kilian Bode – Haareschneiden statt Sex – ebenso wie die in einen Reisebericht gepackte Trennungserfahrung von Isabelle Lehn. Eigenartigerweise sind es in diesem Buch gerade Miniaturen, die ich am stärksten fand. Das betrifft Judith Kellers lakonische Minitexte und die Kürzestgeschichten von Jörn Dege in ihrer guten Balance von Beiläufigkeit und verstecktem Inhalt.
Unter die Rubrik Essay (oder Reportage?) kann ich mit etwas gutem Willen nur Codex Sinaiticus von Gerald Ridder einordnen. Schade, mag ich doch diese Gattung besonders. Stadt und Leben werden in diesem Text als Palimpsest begriffen. Kein ganz neuer Gedanke.
Anhaltend im Trend liegt offenbar der Hang zum Drama. Dramolett müsste es wohl wegen der gebotenen Kürze heißen. Manches davon ist reichlich albern wie Hannes Beckers Dialog von Sahnekännchen, anderes eher banal wie Katharina Stooß´ Ringen mit dem Schlaf. Auch das ist wohl eine Übungsaufgabe im Unterricht gewesen. Wieder einmal ist es aber ein Text von March Höld, der mich beeindruckt hat. Liegt es daran, dass er als einziger im Buch ein politisches Thema hat oder aber an der schwarzen Satire?
Ich muss zugeben, dass ich meinen Eindruck nach dem Erstlesen, es sei ein deutlicher Abfall gegenüber der Tippgemeinschaft 2009 zu spüren, beim erneuten Durchblättern korrigieren musste. Allzu hoch finde ich die Trefferquote trotzdem nicht gerade. Mein ganz unbedarfter Tipp als Außenstehender an die Literaturstudenten wäre, weniger zu lesen und mehr zu leben. Die drei erfolgreichsten Absolventen des DLL der letzten Jahre – Juli Zeh, Clemens Meyer und Sasa Stanisic – habens vorgemacht.