Da meine Blogbeiträge spärlich geworden sind, ist es wirklich ein Zufall, dass sich der vorige Artikel und der jetzige unmittelbar aufeinander beziehen. Im April hatte ich Urlaub in Thüringen, jetzt in Kroatien. Zeit, endlich mal wieder ein Buch zu lesen. Diesmal habe ich mir „Hey Guten Morgen, wie geht es dir?“ von Martina Hefter eingepackt.
Den Roman als Ergänzung zu Jan Kuhlbrodts Krüppelpassion zu bezeichnen, wäre voll daneben. Es ist die andere Seite der Geschichte, die Gegendarstellung. Moment mal, Gegendarstellung? Das klingt so nach Widerruf, Fehlerkorrektur. Stimmt also nicht. Das Buch hätte auch eher erscheinen können als Krüppelpassion, wäre dann die Vorlage zur Erwiderung. Noch so ein falsches Wort.
Kurz: Martina schreibt über ihren Alltag mit einem schwerbehinderten Mann. Über die eigenen Behinderungen – die der arg beschränkten Handlungsfreiheit, aber auch die der finanziellen Not. Es ist keine Dokumentation. Wie in den nächtlichen Chats mit einem afrikanischen Love-Scammer biegt sie die Identität zurecht, nicht immer im vorteilhaften Sinne. Sie sei angeblich kinderlos. Und sie sei „nur“ Performerin, nicht auch Schriftstellerin. Dass sie Namen verändert, ist klar. Warum sie aber Juno heißt, ihr Mann Jupiter und auch fast alle anderen Personen Namen aus diversen Götterwelten tragen, ist ein für mich nicht verständlicher Manierismus.
Ich mag Bücher mit Orten, die mir vertraut sind. Hier ist Leipzig ein Hauptschauplatz, vor allem Schleußig. Die Wohnung von Martina und Jan als vertraut zu bezeichnen, wäre für mich übertrieben. Aber ich war zwei Mal da, kenne auch das Problem mit der Treppe vor dem Eingang, für einen schweren Fahrstuhl nicht ohne fremde Hilfe zu überwinden.
Der ganz andere Ort im Roman aber ist digitaler Art. Die Erzählerin antwortet auf Flirtanträge in Instagram, genau wissend, dass es Betrüger sind, auf ihr gar nicht vorhandenes Geld aus. Bei vielen platzt der Versuch schnell, bei einem Nigerianer kommt es nach dem Aufdecken aber zum wochenlangen Chat in den von chronischer Schlaflosigkeit gekennzeichneten Nächten. Auch hier ist die Identität nicht ganz aufrichtig. Kein kranker Mann kommt vor. Eine Wunschkonstruktion des Ichs einer Frau über 50, die noch etwas erleben will? Auch das nicht. Nur etwas Retusche des Daseins, das trist ist und auch wieder nicht. Denn da gibt es noch den erfüllenden Beruf, der Spaß macht, kein Job ist.
Der Chat bringt nicht nur eine andere Erzählebene hinein, auch eine neue Sicht. Die Autorin liest plötzlich Bücher über die Kolonialgeschichte und den weißen Rassismus. Dort der Afrikaner, bei dem um zehn der Strom abgeschaltet wird, der wegen einer Währungsreform kaum Nahrung hat, Hier die weiße Deutsche, die zwar manchmal das Geld für die in Leipzig gar nicht mehr so bescheidene Miete hat, aber noch genug für Pizzazungen und Spekulatius ab dem 14. September, wenn er im Konsum an der Könneritzstraße wieder im Regal liegt.
Rezepte für die nötigen Spritzen des Mannes besorgen, die notorischen Fragen der immer wieder kommenden Frau vom Gesundheitsamt wegen der Pflegestufe beantworten, Fördermittelanträge für Kulturprojekte stellen und am letzten Tag abrechnen, dann den Brief noch mit Kaffee bekleckern. Alltag in einem reichen Land, das einen unverschuldet Schwerbehinderten zum ewigen Bittsteller macht, am Existenminimum dahinvegetieren lässt, seine Frau ebenso. Auch eine Herabwürdigung von Menschen, die nicht ins Schema passen, zum Beispiel, weil sie auf unabhängige Weise kreativ sein wollen.
Warum tut sie sich das an? Verantwortungsbewusstsein reicht als Antwort nicht aus. Liebe? Sicher. Sicher? Immer wieder geht es im Text auch um Sternbilder und ihre differierenden Ansichten von den verschiedenen Erdteilen. Juno sieht etwas anderes als Benu, der Nigerianer. Aber sie sehen etwas. Vielleicht liegt noch etwas dahinter. Etwas jenseits von Geldüberweisungen betrogener europäischer Witwen oder stupider deutscher Gesundheitsämter.