Wie hieß Stötzer eigentlich mit Vornamen? Im ganzen Buch Stötzers Lied nennt ihn Jan Kuhlbrodt immer nur beim Familiennamen. Werner? Wohl nicht, so hieß der Bildhauer, bei dem ich mal im Oderbruch zu Gast war. An Stötzers Assistentin Isolde Eichhorn kann ich mich plastisch erinnern, da lohnte der Seminarbesuch schon wegen der Optik. Aber wie sah Professor Stötzer aus? Und hatte er wirklich ein Meisenlachen, wie Kuhlbrodt immer wieder schreibt? Kann sein.
Nachdem wir uns im ersten Studienjahr angewöhnt hatten, die Vorlesungen in Politischer Ökonomie lieber in der Mensa vorbeigehen zu lassen – 15 Minuten Lehrbuchstudium brachten mehr – wollten wir das dann mit der Fortsetzung, die Politische Ökonomie des Sozialismus behandelnd, weiterhin so handhaben. Doch dagewesene Streber sagten, das sei nun ganz anders. Tatsächlich, da herrschte ein anderer Geist. Kurz, Stötzer stellte eigentlich die Existenzberechtigung seines Fachgebietes in Frage. Wenige Jahre später hatte es sich dann tatsächlich dialektisch aufgehoben.
Dass Jan Kuhlbrodt, der zu jener Zeit sein ebenfalls gegenstandslos gewordenes erstes Studium abbrach, um in Bankfurt Philosoph zu werden, zu diesem Professor so ein intensives privates Verhältnis hatte, Stoff für ein ganzes Buch, war mir nie aufgefallen. Doch da schleicht sich sowieso der Verdacht ein, dass ihm dieser vornamenlose Stötzer nur als Projektionsfläche dient, ein Alter Ego, Stichwortgeber und Gesprächspartner, der genau das sagt, was in den Text passt. Das ist legitim, in der Literatur keine Seltenheit. Genährt wird der Verdacht der Konstruktion durch die Verdrehung biografischer Fakten. Der Ich-Erzähler, also der Autor selbst, behauptet, 1972 in eine Plattenbauwohnung in Leipzig-Grünau gezogen zu sein, obwohl er in einem ähnlichen Bauwerk im Karl-Marx-Städter Yorck-Gebiet aufgewachsen ist. In die schon lange wieder Chemnitz heißende Stadt schickt er hingegen seinen Stötzer zur Exkursion.
Sind das eigentlich Gedichte? Eine Gattungszuschreibung fällt schwer. Kuhlbrodt philosophiert über Gegenwart und nahe Vergangenheit, wenig über Kommendes. Gesang vom Leben danach steht im Untertitel. Gesang im Untertitel, Lied im Titel. Musik kommt trotzdem nicht so viel vor. Es ist mehr ein Epos wie eben das berühmte Hildebrandslied. Oder das Nibelungenlied. Doch unterscheidet es sich von diesen durch die Brechungen. Manche Abschnitte nach Zwischenüberschriften sind nur wenige Zeilen lang. Er lässt Stötzer sterben, früh im Buch. Doch dann ist er weiter da. Die Zeit ist nicht linear. Projektionsflächen haben keine definierte Richtung.
Abgesehen von den Ausflügen in benachbarte Großstädte ist Stötzers Lied eine Art von vertontem Stadtrundgang für Intellektuelle durch Leipzig. Er beginnt am Deutschen Platz, den Kuhlbrodt bis zum dem von da aus eigentlich nicht sichtbaren „Bedeutungsklotz“ Völkerschlachtdenkmal ausdehnt, die Alte Messe querend, jenes Gewirr also, das uns einmal die Welt ersetzt hatte. Am Leuschnerplatz denkt der Autor mit seinem Gesprächspartner an einen späteren Archäologen, der neben dem Bowlingzentrum einen achtlos entsorgten heutigen Knochen vom Hähnchengrill in der Rettungsgrabung vor Bau einer Massenduschanlage entdeckt. Am neuen Bildermuseum finden sie es tröstlich, dass einem an den gigantischen Türen scheiterndem Kind eben auch der Anblick des Klingerschen Beethovens erspart bleibt.
Nur im Übergang sei Dauer. So etwas wie ein Credo, das Kuhlbrodt seinem Stötzer in den Mund legt.Von Übergängen singt sein Lied. Vom Ost-Sozialismus zum Import-Kapitalismus. Von Baugruben zu Bausünden.Vom Leben zum Nachleben. Ein ewiges Thema. Darum ist es nicht ganz so wichtig beim Lesen, wie man das Genre des Textes korrekt benennt, ob man Jan Kuhlbrodt kennt, ob man sich an Stötzers Vornamen erinnert.
Siegfried hieß er.
Jan Kuhlbrodt: Stötzers Lied
Verlagshaus J. Frank Berlin, 2013