Vielleicht sollte ich mir auch im Angesicht der Begrenztheit meines Lebens keine langen Texte mehr vornehmen, und ich sollte auch keine dicken Bücher mehr kaufen, denn ich lese sie ohnehin nicht bis zum Ende. Und ob ein Text zum Ende kommt, ist nicht ausgemacht.
Das Zitat stammt aus dem Buch Krüppelpassion von Jan Kuhlbrodt, seinem jüngsten und ich hoffe nicht letztem. Ich habe es im Urlaub in Thüringen gelesen, der nun schon wieder seit drei Tagen zu Ende ist. Wir sind gewandert, bis zu fünf Stunden. Bisschen anstrengend für mich unsportlichen Typen. Jan aber kann keine fünf Schritte mehr gehen.
Ein Tag im Spätherbst 1989. Ich bin schon an der TU Karl-Marx-Stadt angestellt, aber am Wochenende zu meiner mongolischen Freundin nach Leipzig gefahren, die noch an ihrer Diplomarbeit werkelt. Ein Bekannter im Studentenwohnheim an der Phillip-Rosenthal-Straße sagt, heute abend sei eine Wohnzimmerparty in Connewitz. Wir gehen uneingeladen mit hin. An diesem Abend lerne ich Ulli und ihren damaligen Ehemann Winni kennen. Anlass für die spontane Party ist, dass sie einen Straßenkater aufgelesen haben. Sie nennen ihn Puck. Außerdem lerne ich Thomas kennen, Heino Bosselmann, der heute Stammautor der Nazipostille Sezession ist, sowie Jan Kuhlbrodt. Er studierte damals Politische Ökonomie in Leipzig.
Krüppelpassion ist die Geschichte seiner Krankheit – Multiple Sklerose. Kurz nach unserem Umzug nach Leipzig 2006 war ich zu einer Lesung mehrerer Autoren in der Kunsthalle der Sparkasse Leipzig, die leider auch schon Geschichte ist. Jan war einer der Lesenden. Er kam mit Krücken. Bist du gestürzt?, frage ich in naiver Unwissenheit. Ich stürze nur noch, sagt er. Wenig vorher hatte mir ein anderer Bekannter gesagt, er hätte Kuli (wie wir nannten) in Schleusig gesehen. Er sei wohl schon am frühen Nachmittag betrunken gewesen. Was für ein peinlicher Irrtum. Von unserem gemeinsamen Bekannten, aber auch von mir, weil ich es glaubte.
Er habe lange gezögert, sich mit der beschissenen, unheilbaren Krankheit literarisch zu beschäftigen, sagt Jan. Das neue Buch bezeichnet er als dritten Band seiner Chemnitz-Trilogie. Schneckenparadies und Vor der Schrift seien die ersten beiden. Ich komme mit dieser Einordnung nicht ganz klar. Die anderen beiden Bücher beschreiben Erinnerungen aus der Kindheit und Jugend in Karl-Marx-Stadt, erstaunlich detailliert. Als ich Jan vor zwei Jahren besuchte, habe ich nachgefragt, weil ich mich an solche weit zurückliegenden Zeiten meiner Biografie nur fragmentarisch erinnern kann. Ja, er habe so ein Elefantengedächtnis, sagte er. In Krüppelpassion aber berichtet er über Gedächtnislücken. Doch auch der Bezug zur Stadt der Herkunft, den er in seinem Instagram-Namen kulichemnitz immer noch ausdrückt, ist in dem neuen Buch nur eine Randnotiz.
Chemnitz ist in dem Buch vor allem die Mutter. Vor nicht so langer Zeit an der gleichen Krankheit gestorben. Gegen die Theorie der Vererbung wehrt sich Kuli, es gäbe neuere Erkenntnisse zu einer Übertragung per Virus. Verständlich. Er hat zwei Töchter, die am Anfang ihres erwachsenen Leben stehen. Und ausgezogen sind. Das Kinderzimmer ist jetzt sein Raum. Er hat sich eine Gitarre gekauft. Und eine Mundharmonika.
Die Töchter kommen im Buch nur als Kinder vor. Er habe viele Hosen verbraucht, weil er aus Gründen mit ihnen vor allem auf den Knien rutschend gespielt habe, schreibt er.
Beim Lesen fällt mir auf, wie schon bei den anderen autobiografischen Büchern, dass Frauen kaum vorkommen. Dass er Frauen liebt, achtet und sie ihm wichtig sind, weiß ich aber. Diesmal ist zumindest die Mutter da, dann auch nicht mehr da. Eine Griechin wird erwähnt. Ich kannte sie nicht gut, habe sie aber gesehen. Die griechische Community saß in der großen Mensa der Uni immer in der hinteren Nische an einem der langen Tische. Bei meinen Besuchen in Frankfurt, wo Jan dann Philosophie studierte, habe ich auch eine kleine, aber sehr temperamentvolle Portugiesin kennengelernt. Einen Hefter mit Gedichten für sie steht noch irgendwo bei mir im Regal.
Um so erstaunter war ich, dass nach diesen offensichtlichen Vorlieben für das Exotische Jan eine blonde Frau aus Oberbayern geheiratet hat. Sie hat wie er am Deutschen Literaturinstitut Leipzig studiert, ist aber auch Tänzerin und Performerin. Die dafür nötige hohe Körperbeherrschung ist das, was Jan schon lange fehlt. Zweifellos hat sie sich ihr Leben anders vorgestellt, als schon im mittleren Alter einen „Krüppel“ (Eigenbezeichnung Jan Kuhlbrodt) zu pflegen. Sie macht es aber, und ich bewundere sie sehr für ihre Kraft.
Ich rufe Kuli an. Warum kommt deine Frau in dem Buch überhaupt nicht vor? Ich hatte vermutet, dass es eine Vereinbarung zwischen ihnen gab. Er sagt mir aber: Ich kann einfach nicht über Personen schreiben, die mir so nahe stehen. Verstehe ich nicht, muss ich aber akzeptieren.
Ich kann mich an einen Abend erinnern, als er noch in Leipzig war. In einem Nebengebäude der Musikhochschule an der Wächterstraße war Party. Er hatte damals noch ein höheres Körpergewicht als ich. Beim Pogo schubste er mich gegen eine Tischkante. Ich hatte Befürchtungen, eine Rippe könnte angebrochen sein. Und das wenige Tage vor der Reise nach Russland zu meiner damaligen Geliebten und jetzigen Frau. War aber nicht so schlimm.
Als „Kartonagentheorie“ bezeichnet Jan ein Publikationsprojekt, das im Verzeichnis am Ende des Buches nicht erscheint. Samisdat. Zusammen mit Holger Heiland, den ich nicht kenne, hat er die Pappschachtel mit dem aufgesprühten Schriftzug Stattwerk I produziert. Wer welchen Text auf den eingelegten Blättern geschrieben hat, wird nicht markiert. Man sollte die Blätter eigentlich in die Luft werfen, um die Reihenfolge zufällig zu machen. Da eine Bedienungsleitung nicht dabei lag, wusste ich es nicht. Es sollte ein Experiment sein, ob man West- und Ostvermurzelung noch anhand der Texte unterscheiden könne. Ausgesprochen gewagt zu dieser Zeit. Und heute immer noch ein bisschen, nach drei Jahrzehnten. Vermutlich bei meinem ersten Besuch in Frankfurt hat mir eine der Schachteln geschenkt. Ich hole sie aus dem Regal. Und staune. Obenauf liegt ein vergilbtes Blatt mit einem Gedicht von Chlebnikow in Russisch. Der Handschrift nach muss ich das wohl selbst abgepinselt haben. Dann eine Zeitungsseite mit einem kleinen Text von Kuli über einen Aufenthalt in Athen, auch in der Krüppelpassion enthalten. Und einige Computerausdrucke. Die muss ich wohl in meiner ABM bei Schorsch Brühl getippt haben, hatte damals noch keinen eigenen Computer. Ich kann mich erinnern, dass mir die Texte der zwei Nachwuchsautoren inhaltlich zu banal vorkamen und wollte nachweisen, dass ich das auch kann. In einem der Texte formuliere ich aber, was mich beim Schreiben in der dritten Person eigentlich gestört hat: Die Personen in den Texten sind gesichtslos! Er möchte nicht er sein, sondern ich. Er möchte seine Freunde, Bekannten, Geliebten & Ungeliebten, Ehepaare usw. beim Namen nennen, ihnen Gesichter geben.
Passion heißt Leiden wie auch Leidenschaft. Im Deutschen ist es vor allem die Bezeichnung der letzten Woche im Leben von Jesus inklusive Auferstehung. Soviel ich weiß, ist Jan Kuhlbrodt kein gläubiger Mensch. Doch ich habe verschiedentlich gehört, dass viele Atheisten in Erwartung des Todes sich doch noch einen Gott aussuchen. Ich selbst habe dafür noch keinerlei Bedürfnis. Aber mir geht es ja körperlich auch vergleichsweise gut. Klar kann ich in der nächsten Minute umkippen und weg sein. Solch ein Tod hat den Vorteil der Eile. Er ist keine Passion. Und auf eine Auferstehung kann ich verzichten.
Als ich vorige Woche mit Jan telefonierte, fragte ich ihn, ob ich mal vorbeikommen könne. Einfach so, ohne Grund. Klar doch. Nun ist in den restlichen Urlaubstagen nach der Thüringenreise neben Steuererklärung und häuslichen Aufgaben doch nichts draus geworden. Mist!