Der Name Bertha Wehnert-Beckmann ist heute nur Spezialisten ein Begriff. Diese in mehrfacher Hinsicht bemerkenswerte Frau wieder stärker ins allgemeine Bewusstsein zu rücken, ist Anliegen des opulenten Buches von Jochen Voigt, Professor an der Abteilung Angewandte Kunst Schneeberg der Westsächsischen Hochschule Zwickau.
„In Cottbus geboren, habe ich sofort nach Erfindung der Daguerrotypie meine Bemühungen dahin gerichtet, durch Erlernen dieser Kunst mir meine Zukunft zu sichern und für mich einen Erwerbszweig zu gewinnen.“ Es muss eine besondere Persönlichkeit sein, die im November 1844 derartiges in einem Brief an die Leipziger Stadtverwaltung formuliert, um hier eine Aufenthaltsgenehmigung zu bekommen. Dass es eine Frau ist, macht die Angelegenheit für diese Zeit besonders interessant.
Im Herbst 1839 war die Erfindung L.J.M. Daguerres, mittels einer Camera obscura realistische Bilder festzuhalten, bekannt geworden. Die 1815 geborene Bertha Beckmann eröffnete im Dezember 1842, nur drei Jahre später, in Dresden ihr erstes Atelier. Vorausgegangen waren eine Lehre bei Wilhelm Horn in Prag und möglicherweise eigenständige Versuche in dem komplizierten und unzureichend dokumentiertem Verfahren noch in Cottbus. Von Dresden aus ging sie wie andere Pioniere der Daguerrotypie auf sogenannte Kunstreisen. In Altenburg lernte sie dabei Eduard Wehnert kennen, der in gleicher Angelegenheit unterwegs war. 1843 eröffneten sie ihr gemeinsames Leipziger Atelier mit Adresse Burgstraße 8. Im November des Jahres heirateten sie.
Jochen Voigts Buch ist eine multiple Historiographie. Neben der Biografie Bertha Wehnert-Beckmanns behandelt er die Technikgeschichte des jungen Mediums Fotografie, dessen Kunstgeschichte, sehr viel Leipziger (und ein bisschen New Yorker) Lokalgeschichte, und nicht zuletzt auch einen Abschnitt der weiblichen Emanzipation.
In technischer Hinsicht benutzte das junge Paar neben der Daguerrotypie – die sehr scharfe, aber kaum zu vervielfältigende Bilder auf versilberte Kupferplatten lieferte – auch die von Talbot erfundene Kalotypie, deren weniger brillante Papiernegative mehrfach umkopiert werden konnten. Mitte der 1850er Jahre folgte das Kollodiumverfahren auf Glasplatten. Da war Eduard Wehnert schon tot. Er starb bereits 1847, vermutlich an den Folgen des dauernden Umgangs mit hochgiftigen Chemikalien. Die von ihm aus dem Hinterhof der Burgstraße um 1846/47 aufgenommene Ansicht der Rückseite des heutigen Bachmuseums mit dem Turm der Thomaskirche ist vermutlich die älteste erhaltene Stadtfotografie von Leipzig.
Die Behauptung, Bertha Wehnert-Beckmann sei die erste professionelle Fotografin Europas gewesen, untersucht Voigt akribisch. Zwar gab es andere Frauen, die sich mit der Materie noch etwas eher beschäftigten, darunter Talbots Frau Constance, doch Betreiberinnen eines eigenen Ateliers gab es offenbar nur in den USA wenige Monate früher. Auch nach der Heirat agierte Bertha eigenständig. Nach dem Tod Wehnerts holte sie zwei ihrer Brüder in das aufstrebende Unternehmen. 1849 brach sie nach Amerika auf, eröffnete am Broadway ein ebenfalls florierendes Geschäft, zu deren Kunden Prominente wie der Südstaatenheld Sam Houston gehörten.
Als sie zwei Jahre später nach Leipzig zurückkehrte, schaffte es der nachgereiste Bruder Rudolph nicht lange, die Filiale am Leben zu erhalten. Das wirft ein Licht auf die Stärke dieser Frau. Sie war keine Feministin im politischen Sinne, ging aber mit überzeugendem Selbstbewusstsein davon aus, dass erfolgreiches Wirtschaften kein Privileg von Männern sei. Dabei verstand sie sich aber immer auch als Künstlerin. Trotz der in der Frühzeit aus minutenlangen Belichtungszeiten resultierenden Probleme schuf sie einen eigenen Stil des Porträtierens. Ihr Atelier in der Burgstraße, später in einer geräumigen Villa an der Elsterstraße – noch heute existent – wurde zu einem gesellschaftlichen Treffpunkt Leipzigs.
Jochen Voigt kann dank umfassender Recherchen, zu denen ein Überraschungsfund in München gehörte, viele bisher unveröffentlichte Aufnahmen präsentieren. Dazu gehört ein Porträt des Gartengestalters Lenné, der die Schilleranlagen schuf. Architekturaufnahmen sind ebenso selten wie andere Sujets. Ein erotisches Stereobild gehört zu den Ausnahmen. Bertha Wehnert-Beckmanns Stärke war das Porträt. Dabei konnte sie unbekannten Kindern so viel Hingabe widmen wie amerikanischen Politikern. Doch auch Nachweise von Montagen, um nicht zu sagen Fälschungen, die schon um 1850 entstanden, sind von historischem Interesse.
Die großformatige Publikation mit 343 Abbildungen ist kein leicht zu konsumierendes Sachbuch, sondern eine wissenschaftliche Arbeit mit der daraus resultierenden Weitläufigkeit auch in Details und Nebenlinien. Der bisher kaum bekannten Bedeutung Bertha Wehnert-Beckmanns ist dies angemessen. Zu würdigen ist außerdem der enorme Aufwand, den May Voigt betrieben hat, die problematischen Vorlagen zu reproduzieren. Spiegelende und partiell verfärbte Daguerrotypien in druckbare Qualität zu bringen ist ebenso kompliziert wie die Wiedergabe von Negativen aus gewachstem Papier.
Die Mühe hat sich gelohnt. „A German Lady“ ist das umfassende Lebensbild einer Leipzigerin, deren Wiederentdeckung ein wichtiger Baustein des lokalen Selbstverständnisses ist.
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