Gedächtnisstörungen

Bei den ewigen Diskussionen um die neue Bebauung des Wihelm-Leuschner-Platzes, dem vorauseilend schon eine neuer Beiname angehängt wurde, durch Straßenbahnen und U-Bahnschächte hallend, las ich der Leipziger Internet-Zeitung in einem Kommentar: Das historische Straßennetz einer Stadt ist auch deren Langzeitgedächnis. Das habe ich schon mehrfach gehört. Klingt irgendwie vernünftig, wie eine durch Autoritätsbeweise untermauerte Volksweisheit, über die nicht mehr diskutiert werden muss. Durchdenkt man sich aber dieses nostalgische Geplapper, wird es absurd. Welches historische Straßennetz ist gemeint? Als hätte es mal einen fertigen Zustand der Stadt gegeben, der dann verwischt wurde. Bevorzugt unterstellt man diese Gedächtnisstörung der Überbauung bzw. Beräumung zu DDR-Zeiten, weshalb viele auch das Bowlingzentrum weg haben wollen. Nach dieser Logik muss natürlich auch die Ringbebauung am Roßplatz verschwinden. Allerdings auch die Schilleranlagen, auf dass man die Stadtmauer wieder errichte. Meister im Wegreißen und Überbauen waren nun gerade die Planer des 19. Jahrhunderts, die jetzt so gern verklärt werden. Da musste eben auch mal eine mittelalterliche Kirche weichen, um die Petersstraße zu erweitern. Und kein Verein, keine Bürgerinitiative wurde wütend.

Wie so ein angebliches Langzeitgedächtnis aussieht, kann man am Dresdner Neumarkt bewundern, Disney hätte seine Freude dran. Oder in Berlin, wo das Schloss wiederersteht. Fast so als könnten sich noch viele Berliner dran erinnern, nicht aber an den Palast der Republik, der dafür weichen musste. Ist ja nur Kurzzeitgedächtnis, kann weg.Aber auch die Behauptung, dass Grundrisse den Stadtcharakter ausmachen, ist fraglich. Manhattan hat heute im Wesentlichen noch das gleiche Straßennetz wie vor 200 Jahren. Dass man deswegen den Geist dieser Zeit noch spüren könne, ist ja wohl Quark.

Kalendersprüche sind für die Stadtplanung kaum tauglich.

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Eine Antwort auf Gedächtnisstörungen

  1. GH sagt:

    „Meister im Wegreißen und Überbauen waren“

    auch die Bomberpiloten aus dem 2. WK und die Erfinder der autogerechten Stadt danach. Drei Fünftel von Hannover müßte man wieder zurückbauen, wenn man da
    in das Langzeitgedächtnis greifen wollte.
    Und was hat man dann? Fachwerkhäuser, norddeutsche Klinker-Häuschen, und
    schlechte Kanalisation. Will man das?

    GvH

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