Privat-antizyklisch handelt habe ich mir die Tippgemeinschaft 2014 unmittelbar nach dem Erscheinen gekauft. Auslöser dafür war der Wellen schlagende Artikel von Florian Kessler in der Zeit, gemäß dem die Langeweile der Texte von Absolventen beider deutschen hochschulmäßigen Schreibschulen Hildesheim und Leipzig daraus resultiert, dass dort fast nur Kinder der gutsituierten Mittelschicht studieren. Die Aussicht, als prekärer Poet zu absolvieren, ist seiner Darstellung nach nicht vertretbar für Jugendliche (in Bezug auf das DLL ein relativer Begriff) aus Familien, die nicht ewig Zuschüsse zahlen können. Doch den Abgesicherten fehlt es eben an Erfahrungen mit der eigentlich dreckigen Realität des Lebens. Daher der Gähnfaktor, den ich auch schon bei etlichen Tippgemeinschaften durchlebt habe, und erfolglos versuchte, mit wirklich gut gemeinten Ratschlägen gegenzusteuern.
So, Kessler hat also gerade noch rechtzeitig einen Weckruf erschrillen lassen, war gemäß Zeitungsberichten auch zu einer Diskussion über die Sachlage in das DLL geladen. Schaun wir also mal, was rausgekommen ist. Die Titelgestaltung ist vielversprechend. Statt der Wortspielereien vom Vorjahr sind nun Löwen abgebildet. Zwar hinter Gittern, dennoch starke Tiere. Hinter dem Schutzumschlag schaut man den Bestien sogar direkt ins Auge. Ich bin gespannt.
Und dann, ist das möglich, ist gleich der erste Text (ich meine nicht nicht die ziemlich abgehobene Einleitung von Ulrike Draesner) eine Politsatire. Zwei Problemzonen auf einmal zum Schwabblen zu bringen traut sich Ellen Wesemüller. Ein politischer Text! Dann auch noch so, dass zwar nicht jeder schmunzeln kann, aber manche. Gerade das scheint ja das größte Tabu an den Schreibschulen zu sein: Um Gottes willen vermeiden, dass ich ein Mundwinkel nach oben verschieben könnte. Das ist keine Literatur mehr. Damit kannste ja gleich zum Poetry Slam gehen, wenn nicht gar zu Mario Barth. Ganz neu ist die Idee zwar nicht, sich über den Aktionismus ultralinker Grüppchen lustig zu machen – Monty Pythons genialer Film „Das Leben des Brian“ ist dabei unerreicht – aber der Ansatz ist schon mal bemerkenswert.
Es folgt eine Art Roadmovie an der slowenisch-kroatischen Grenze von Lene Albrecht. Zwar kann ich die Handlung nicht restlos aufdröseln. Allein das Sujet ist ja schon mal was anderes als die üblichen Verinnerlichungen.
Es folgt eine Milieustudie über nichtsnutzige Teenager von Babet Mader. Doch dann kommen zunächst etüdenhaft-surreale Kompositionen. Und wieder Gedankenabschweifungen. Auffällig ist bei dieser Tippgemeinschaft, dass erst auf Seite 111 Gedichte kommen, denen dann nur wenige folgen. Ist diese Lyrikabstinemz schon ein Trend oder nur opportunistischer Marktbeobachtung geschuldet? Was geliefert wird, ist allerdings der typische Scheiß á la „heute Preisträger, um morgen Juror des Preises zu sein“.
Auch finden sich wieder ausreichend Texte der Art: Jetzt schreiben wir mal in der dritten Person, jetzt nehmen wir mal die Perspektive eines Haustieres ein … Was im Unterricht sinnvoll sein kann, muss ja noch nicht publikationreife Produkte hervorbringen.
Dennoch finden sich einige Blütenansätze, die das Durchhalten des Lesers belohnen. Carola Weiders Anti-Love-Story in einer Art dystopischem Pflegeheim hat es in sich. Auch die leicht psychotische Paarbeziehung in Paris, die Lilian Peter schildert. Und für mich der stärkste Text ist die Innenansicht eines Vater-Arschlochs, die Edda Reimann überzeugend ausmalt (doch hoffentlich ausnahmsweise selbst erlebt hat).
Die Angaben der Studenten zu sich selbst am Ende jedes Abschnittes fallen unterschiedlich aus, auf den sozialen Status der Eltern geht kaum wer ein. Insgesamt ist die Studienrats-Tochter- und Chefarzt-Sohn-Literatur immer noch tonangebend. Da helfen auch keine Seminaraufgaben wie: Jetzt stellen wir uns mal vor, einen Aushilfsjob zu machen. Man muss selbst Spargel stechen, um zu wissen, was Schmerzen sind! Dass große Literatur bei solch einem – wenn auch erzwungenem – Experiment rauskommen kann, zeigt Heike Geißler mit ihrem Erfahrungsbericht vom Weihnachtsgeschäft bei Amazon in der aktuellen Ausgabe von edit.
Pingback: michael schade - irreguläre tage | kunstszene leipzig