Die Stühle stehen ungeordnet in einem ansonsten leeren Raum, so als wären Studenten nach dem Seminar schnell ausgeschwärmt. Zurück bleibt nur eine zusammengesunkene Person. Elisabeth Voigt, Künstlerin und Hochschullehrerin, hat sich 1956 im Zustand der Resignation dargestellt.
Offiziell war sie zu dieser Zeit 58 Jahre alt, eigentlich aber schon 63, da sie als Studentin ihre Papiere manipuliert hatte. Die Fälschung kam erst nach ihrem Tode 1977 ans Licht. Es ist aber nicht in erster Linie das Alter, das Elisabeth Voigt zu schaffen machte. Wieder einmal konnte sie ihre künstlerischen Vorstellungen nicht frei umsetzen.
Dass der Name der Künstlerin heute immer noch so etwas wie ein Geheimtipp ist, hat verschiedene Ursachen. Mit dieser von Barbara John kuratierten Ausstellung kann sich daran endlich etwas ändern. Denn als Malerin und Grafikerin ebenso wie als Lehrerin ist Voigt ein wichtiger Bestandteil der Leipziger und überregionalen Kunstgeschichte.
Sie hatte vor dem Ersten Weltkrieg an der Leipziger Akademie ein Studium begonnen, wechselte dann aber nach Berlin, wo sie bis 1945 blieb. Prägender noch als Käthe Kollwitz, bei der sie Meisterschülerin war, wirkte ihr Lehrer Karl Hofer, zu dem sie auch persönlich ein sehr enges Verhältnis hatte. Ist schon Hofer mit seinem reduzierten Realismus nur mühsam in die Strömungen der Zwischenkriegszeit einzuordnen, so fällt das bei Voigt noch schwerer. Auch wenn die Formensprache häufig expressiv aussieht, sind nicht Brücke oder Blauer Reiter die Bezugspunkte, sondern eher die ekstatische Spätgotik eines Grünewald. Am deutlichsten wird das bei der großformatigen „Beweinung am Kreuz“. Auch wenn das Bild nicht genau so im 15. Jahrhundert hätte entstehen können, ist die Wahlverwandschaft doch eindeutig. Manche Arbeiten wirken ganz zeitgemäß, aber immer wieder bricht die thematische wie stilistische Vorliebe für frühere Epochen durch, so etwa bei der Holzschnittserie „Wehrwolf – der Dreißigjährige Krieg“ nach einer literarischen Vorlage von Hermann Löns. Löns gehörte zum beliebten Lesestoff der Nationalisten, doch Elisabeth Voigt zeichnete auch Straßenkämpfe zwischen Arbeitern und Polizei. Politisch war sie offenbar genau so wenig festgelegt wie künstlerisch.
Bevor sie sich von der Eklektik lösen, einen erkennbaren Personalstil herausbilden und damit auf dem Kunstmarkt ausreichend Fuß fassen konnte, begann die Nazidiktatur. Hofer wurde ebenso wie die Kollwitz zu einem Verfolgten. Voigt aber passte sich an, die prekäre finanzielle Lage trug dazu bei. Sie schaffte es mehrfach in die Große Deutsche Kunstausstellung in München, erhielt auch Aufträge, sogar von staatlichen Stellen. In einem süßlichen Heimatstil malte sie idyllische Szenen aus dem Landleben, die retrospektiv wie die dramatische Verschwendung eines großen Talents erscheinen müssen. Außerdem sind einige militärische Motive erhalten, wie die Luftlandung deutscher Truppen auf Kreta.
Dann kam die Stunde Null. Das Berliner Atelier ist zerstört, sie kehrt nach Leipzig zurück und erhält eine Professur an der wiedereröffneten Akademie. Auch wenn dies eine gewisse Absicherung darstellte, nennt sich ein gleich nach dem Krieg entstandenes Selbstporträt „Verlorene Illusionen“. Die Malweise ist nun wieder deutlich an Hofer angelehnt. An Bildern mit identischer Motivwahl wie den Klöpplerinnen oder einer Szene der Stierbändigung wird in der Ausstellung deutlich, dass die Wiedergewinnung des Expressiven für sie eine Befreiung sein musste. Doch unter dem HGB-Rektor Kurt Massloff – einem unbedeutenden Künstler, aber großem Kulturstalinisten – begann erneut die Gängelung. Dennoch: Elisabeth Voigt verbiegt sich nicht nochmals so wie im NS-Regime. Arbeiten, die dem Klischee des Sozialistischen Realismus gehorchen, finden sich nicht. An Blättern wie der den Karren ziehenden Mutter Courage oder eben den leeren Stühlen kann man erahnen, welch eine Kraft sie unter günstigeren Umständen hätte entfalten können. Doch mit über 50 schaffte sie es nicht mehr, ein konsistentes Werk zu entwickeln.
Es ist ein Verdienst der Kunsthalle, an diese Tragik zu erinnern, aber auch an eine besondere Leistung. Eine Wand der Ausstellung gehört Arbeiten von Leuten, die bei Elisabeth Voigt studiert haben – von Kuhrt über Mattheuer bis Tübke finden sich viele bekannte Namen. Dass sie einen Grundstein für den außergewöhnlichen Aufstieg der Leipziger Malerei in den 1960ern gelegt hat, kann ihr nicht mehr genommen werden. Um so schmerzlicher muss die Einsicht wirken, dass sie persönlich mehrfach gescheitert ist und immer zwischen alle Raster fiel.
Elisabeth Voigt. Im Strudel der Zeit
Kunsthalle der Sparkasse Leipzig, Otto-Schill-Str. 4a
bis 7. Mai, Mi 12-2o Uhr, Do-So 10-18 Uhr