Zu den ganz Großen der populären Musik in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gehört er ohne Zweifel. Dafür sprechen die Verkaufszahlen all seiner Alben. Wirklich? In den USA, seiner Wahlheimat und Angelpunkt des internationalen Musikgeschäfts, kam der Kanadier Leonard Cohen über Jahrzehnte nicht in vordere Chart-Ränge. Ein Album gar erschien weltweit, in den Vereinigten Staaten aber erst Jahre später. Zu den ganz Großen der zeitgenössischen Literatur soll er außerdem gehören. Doch wer hat schon die teils auch in Deutsch erschienenen Romane und Gedichtsammlungen tatsächlich gelesen? Auch die Einordnung in die Rubrik „Populäre Musik“ ist zwiespältig. Ist das Pop, mit solch intellektuellen Texten? Ist das Rock, ohne Schlagzeug? Chanson auf englisch? Singer-Songwriting, stadionfüllend?
Die besondere Rolle Cohens, unvergleichbar selbst mit Seelenverwandten und Freunden wie Bob Dylan, liegt in jener Verweigerung der Kategorien. Sylvie Simmons, die sich der Aufgabe annimmt, diese so wichtige wie aufgefächerte Persönlichkeit in einer umfassenden Lebensgeschichte darzustellen, führt zur eigenen Entlastung Virginia Woolf an, nach der eine Biografie als vollständig gelte, wenn sie sechs oder sieben Ichs berücksichtige statt der ebenso vielen Tausend, die jeder Mensch habe. Bei Cohen muss man da wohl noch eine Null dranhängen.
Simmons versucht, über sieben hinaus zu kommen. Zuweilen überfordert sie dabei den Leser. Besonders die ersten Kapitel zu Kindheit und Jugend sind im Interesse eines Proporz´ zwar akribisch recherchiert, aber deshalb auch ermüdend. Wen interessiert wirklich, wofür der kleine Lennie im Kinderferienlager sein Taschengeld verwendete? Wichtig hingegen ist die Darstellung der Herkunft aus einer Familie gläubiger Juden, die in Montreal eine Synagoge stifteten. Auch das Umfeld in der zweisprachig gespaltenen Stadt spielt eine Rolle. Zum Glück widersteht die Autorin der Versuchung, ebenso ausführlich zu berichten, was beispielsweise im legendären Jahr 1968 in der westlichen Welt passierte.
In dieser Zeit, als unter den rebellischen Jugendlichen der Spruch „Trau keinem über 30“ kursierte, war Leonard Cohen, zehn Jahre älter als die Heroen der Beat-Ära, noch auf dem Weg zum angesehensten Schriftsteller Kanadas. Er machte dabei große Fortschritte, was durch den Fakt relativiert wird, dass der wichtigste Konkurrent für diesen Titel sein Kumpel und Mentor Irving Layton war. Schon mal gehört? Nein? So wäre es wohl auch Cohen ergangen, hätte er nicht angefangen, seine Gedichte in Songs umzusetzen, zunächst wegen banalem Geldmangel. Als Sänger wie auch Gitarrist war er absoluter Autodidakt, seine Fähigkeiten beschränkt. Die wichtigsten Akkorde hatte er von einem Flamenco-Spieler auf der Straße in Montreal erlernt, der sich wenige Tage nach der Lektion umbrachte.
In der umfassenden Biografie erfährt man sehr viel über die Person, ebenso über die Hintergründe der berühmtesten Songs. Sowie die Frauen in Cohens Leben. Marianne natürlich, die blonde Norwegerin, mit der er acht Jahre mehr oder weniger zusammen lebte. Und Suzanne Elrod – nicht identisch mit der Suzanne des Liedes, das Judy Collins schon zu einem Hit gemacht hatte, lange bevor Cohen selbst auf die Bühne ging – die aber Mutter seiner zwei Kinder ist. Und Janis Joplin, deren Blowjob er in „Chelsea Hotel“ zur Poesie erhob. Und die zwei Tramperinnen im Schneesturm von „Sisters of Mercy“. Und Joni Mitchel, mit der er eine Affäre hatte. Und Nico, mit der er sie gern gehabt hätte. Die kühle Deutsche bewunderte ihn zwar, ließ ihn jedoch nicht ins Bett. „Take this Longing“ ist bleibendes Dokument der Zurückweisung.
Cohen scheint nicht nur wegen des verspäteten Einstieg ins Musikgeschäft nicht ins Klischee des Hotelzimmer verwüstenden Rockers zu passen. Von der Jugend an, aus einer Dynastie von Kleidungsfabrikaten stammend, ist er bis heute elegant-konservativ gekleidet. Er macht stets einen höflichen Eindruck, hochgebildet, kultiviert und introvertiert. So überrascht es, dass er auch lange Zeit Junkie war, Aussteiger mit einem Haus auf der kleinen griechischen Insel Hydra, unangenehmer Macho. Die Beziehungen zu radikalen, teils gewalttätigen politischen Aktivisten werden nicht ausgespart. Auch seine Neigung zum Militärischen erscheint seltsam. Er bewunderte nicht nur die Ehrungen, die sein früh verstorbener Vater im Ersten Weltkrieg bekommen hatte. 1961, zum Höhepunkt der Kuba-Krise, fuhr er in das Land. Und während des Yom-Kippur-Krieges 1973 meldete er sich zur israelischen Armee, kam aber nur bei der Truppenbetreuung zum Einsatz.
Sylvie Simmons stellt diese mehr als sieben Ichs des Leonhard Cohen dar und sucht dabei häufig mehr als nötig nach Entschuldigungen für sein Verhalten. Sie erzählt auch über den Mönch Cohen, der fünf Jahre in einem buddhistischen Kloster zubrachte, von seinen manischen Depressionen jedoch erst bei einem Guru in Mumbai befreit wurde und dann mit Ende 70 das Tourneeleben noch als Lust statt Last, wie zuvor, für sich entdeckte. Dabei benutzt die englische Musikjournalistin eine klare, fast protokollierende Sprache. Leider stechen Inseln allzu bemühter Metaphern, zumeist am Anfang von Kapiteln, unangenehm heraus.
Ganz nebenbei wird mit der Lebensgeschichte eines ungewöhnlichen Künstlers neuer Stoff für die Debatte um Highbrow und Lowbrow geliefert. Der Schriftsteller Leonard Cohen wird von den Verfechtern eines Hochkultur-Begriffs anerkannt und geehrt, der Sänger und Komonist Leonard Cohen hingegen ist eben „nur“ Pop.
Für echte Fans Cohens ist das Buch zweifellos Pflichtlektüre. Wer mindestens ein Album mehr als nur die Best of-Compilation im Regal stehen hat, wird viele interessante Hintergründe finden. Nicht zu empfehlen ist es allen, die sich ein sauberes Bild des smarten Sängers im Nadelstreifenanzug, den „famous blue raincoat“ stets griffbereit im Backstage, bewahren möchten. Auch Liebhaber von Biografien als literarischer Gattung mit ausgefeilter Sprache kommen nicht ganz auf ihre Kosten.
Sylvie Simmons: I´m your man. Das Leben des Leonhard Cohen.
btb München 2012
752 Seiten
24,99 €
(Der Beitrag erschien in kürzerer Form zuerst in der Leipziger Volkszeitung.)