Durchhalteparolen

Das weiße Lesebändchen in meinem „Schmidt liest Proust“-Band nähert sich der 500er-Marke, doch seit Tagen habe ich nichts dazu geschrieben. Auf Zettel schon, die das Buch schon sehr gespickt aussehen lassen, aber eben nicht ins Netz. Das liegt daran, dass ich in der zurückliegenden Woche gleich drei Tage ins innig geliebte Chemnitz fahren musste. Da steht der Sinn nicht nach Schöngeistigem.

Notizen haben sich also genug angesammelt, was aber nicht heißt, dass ich zusammenhängende Bemerkungen formulieren könnte. Mehr so ein Sammelsurium.

Beim Vorblättern auf die letzten Seiten merke ich, dass mein erster und einziger persönlicher Kontakt zu Jochen Schmidt nur wenige Tage nach dem Ende seiner Lektüre gelegen hat, Ende Februar 2007 beim Slam in der Dresdner Scheune. Das beruhigt mich. Wäre es etwas eher gewesen, müsste ich mich ja direkt berührt fühlen, wenn er über Partys und andere Ereignisse berichtet, wo er sich zum gemeinen Volk nicht so zugehörig betrachtet, sondern der kühle Beobachter ist. Zwar hat er sich da in Dresden auch immer Notizen in sein Büchlein gemacht (ein echtes Moleskine, wie ich nun erfahren durfte!), doch das kann ja erst in künftigen Publikationen Niederschlag finden.

Auf S. 281 bemerkt er, ihm sei noch nie aufgefallen, „daß man ständig Bahnen und Busse niederen Rangs benutzt. In Zukunft steige ich in jeder Stadt nur noch in die Linie 1!“ Ein Grund mehr, nicht nach Chemnitz zu reisen. Gab es dort schon seit langem keine Straßenbahn mit der Nummer 3, so wurde bei der jüngsten Fahrplanreform auch die 1 gestrichen. Man kann sich jetzt zwischen 2, 4, 5 und 6 entscheiden. Mit einer konkreten Empfehlung halte ich mich aber zurück.

Mein nächster Zettel (sieht man von denen ab, die nur Sebastian etwas angehen), steckt in dem von Kathrin Passig verfassten Abschnitt. Da steht „Beim letzten Aufenthalt hatte Marcel in Balbec einen von Nebel durchwogenen Ort gesucht ….“ Ich frage mich nun , was die Grundform des mir unbekannten Adverbs „durchwogen“ sein mag – durchwiegen oder durchwagen?

Wunderschön ist die Bemerkung auf S. 331, wo Jochen als Gastredakteur einer kleinen Literaturzeitschrift (Salbader??) überlegt, ob die „Suche …“ da angenommen worden wäre: „Wenn man ihn überreden könnte, alles auf drei- bis viertausend Zeichen zu kürzen, hätte er eine Chance, von uns gedruckt zu werden.“ Warum gab es vor hundert Jahren keine mutigen Redakteure (meinetwegen auch Gastredakteure), die Proust diesen wertvollen Hinweis gegeben haben?

Es häufen sich Jochens Bemerkungen zu inhaltlichen Pannen und Ungeschicktheiten des Schreibers. So tauchen Personen wieder auf, die schon mal gestorben waren. Außerdem weiß man nie genau, in welchem Jahr die Handlung gerade angesiedelt ist (wurde uns da der Erste Weltkrieg unterschlagen, fragt Jochen besorgt auf S. 432). Und auf S. 313 des vierten Buches der „Suche …“ bekommt man endlich ein paar Hinweise zum Aussehen des Protagonisten! Und noch viel weiter hinten erfährt man beiläufig, dass er sogar Klavier spielen kann. Kurz gesagt: Das Manuskript würde heute jeder Gymnasist von seinem Lehrer um die Ohren gehaun bekommen.

Es ist bestimmt nicht günstig, stolz zu vermelden, welche der von J.S. als „Unklares Inventar“ bezeichneten Begriffe man gewusst hätte, ohne zu googeln. Denn: „Er weiß zuviel, er langweilt mich.“ (S. 361) Nun hat sich aber bei mir selbst solch eine Unklarheit eingestellt, bei der mir kein Wörterbuch weiterhelfen wird. Und zwar nicht in den Proust-Exzerpten, sondern bei Jochens persönlichen Notizen. Da steht auf S. 355 in Bezug auf die Berliner Stadtbibliothek: „Der Mann an der Garderobe wirkte ein wenig durchgedreht, manchmal schrie er eine Klotür an, ich ahnte ja nicht, daß hier eine stadtbekannte Klappe war.“ Ich muss Aufklärungsbedarf anmelden. Was ist eine „stadtbekannte Klappe“?

Auf S. 364 erfahre ich zwei Sachen: dass J.S. am 9. November Geburtstag hat und dass er ein Staatsbegräbnis anstrebt. Wer an diesem Tag geboren wurde, ist für ein Staatsbegräbnis eigentlich vorprogrammiert. Also, keine Angst. Wird schon klappen. Und da heute der 7. November ist und ich noch wenig mehr als 100 Seiten zu lesen habe, nehme ich mir vor, zu Ehren des heldenhaften Autors an seinem Feiertag fertig zu werden.

Sarkasmen nehmen zu. Das gefällt mir. Als Marcel wegen des Anblicks eines Flugzeuges in Tränen ausbricht, bemerkt Jochen: „So wie ich geweint habe, als ich zum ersten Mal eine externe Festplatte gesehen habe“ (S. 376). Als Albertine von Marcel ein Necessaire geschenkt bekommt, damit sie sich in seiner Anwesenheit pudern kann, liest man den Kommentar: „Als nächstes wird sie eine Brotbüchse um den Hals gehängt bekommen, damit sie nicht mehr zum Essen verschwinden muß, eine Thermoskanne und schließlich Windeln, um auch diese Abwesenheitszeiten auszuschließen.“ Klasse!

Verwirrung. J.S. fasst auf S. 422 zusammen, eine der Romanfiguren (ein Schwuler) sei beim Anblick des Vermeer-Gemäldes „Ansicht von Delft“ zusammengebrochen und wenig später gestorben. Genau dasselbe habe ich in der Wikipedia über Proust selbst als biografischen Fakt gelesen, da ist das Bild sogar zu sehen. War das selbsterfüllende Prophezeiung oder hat Proust diese Seiten schon auf dem Sterbebett verfasst?

Da bei meinem Computer endlich die Soundkarte wieder geht, höre ich beim Lesen erstmals Webradio so nebenbei. Über laut.fm bin ich auf www.indie.ch gestoßen. Schöne Musik, genau meine Linie. Am Rand der Seite sehe ich dann die Notiz: „Jetzt online: 1 Hörer“ Ein Radiosender ganz für mich alleine. Das ist Luxus wie ich ihn mag!

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