Meine Zielstellung, am 9. November, also Jochen Schmidts Geburtstag, mit der Lektüre des „Schmidt liest Proust“-Bandes fertig zu werden, ist zwar nicht aufgegangen, aber gestern abend konnte ich das Buch nun tatsächlich zuklappen. Allerdings habe ich in die CD noch gar nicht reingehört.
Nach 607 Seiten Lektüre ergeben sich nun einige Ein- und Ansichten. Das betrifft zuächst Marcel Proust und sein Werk. Da hat also ein reicher Schnösel, der sich über den Lebensunterhalt nie Gedanken machen musste, beschlossen, Schriftsteller zu sein. Da er aber trotz materiellen Reichtums arm an Einblicken ins wirkliche Leben ist, wälzt er jedes Detail seines völlig unerheblichen Driftens in diversen adligen und bürgerlichen Milieus bis zur Erschöpfung aus. Ein Thema aber, das zu jener Zeit wirklich brisant war, sein Schwulsein, projiziert er nur am Rande in andere Figuren hinein. Stilistisch hebt sich Proust sicherlich von anderen Vielschreibern dieser Epoche wie Karl May oder Hedwig Courths-Mahler ab. Doch verursacht er auch jede Menge handwerklicher Patzer. Kurz: Es gibt keinen Grund, das Buch wirklich lesen zu sollen. Warum es dennoch zum Kanon der Weltliteratur zählt, bleibt so unergründlich wie manche Vergaben des Literatur-Nobelpreises (so auch in diesem Jahr).
Andererseits ist meine Klischeevorstellung vom Prenzlberg-Lesebühnen-Autor ernsthaft ins Wanken gekommen, die ungefähr so aussah: trinkfest und häufig von dieser Eigenschaft Gebrauch machend – relativ respektlos gegenüber Mitmenschen und Institutionen – auf schnoddrige Weise selbstbewusst – mit bewusstseinserweiternden Substanzen experimentierend – das gesellige Beisammensein liebend – zum Ärger der Nachbarn lautstark Punk/Techno/HipHop hörend – einen Schwarm von Groupies nach sich ziehend und ausnutzend. Jochen Schmidt ist nun offenbar das ganze Gegenteil dieses Bildes. Die Beschreibung diverser Neurosen in „Meine wichtigsten Körperfunktionen“ ist natürlich überzeichnet, aber im Kern scheint manches davon zuzutreffen. Allerdings gehört auch eine ganze Menge Selbstbewusstsein dazu, diese Problemlagen so ungeschönt öffentlich darzustellen. Nun frage ich mich, ob er trotz der Neurosen oder gerade deswegen derjenige der Spokenword-Akteure ist, der zunehmend auch vom akademischen Literaturbetrieb ernst genommen wird.
Summa summarum: Proust werde ich garantiert nie lesen, das nächste Buch von Jochen Schmidt aber mit hoher Wahrscheinlichkeit.