Tradition – ein sumpfiges Gelände. In der Zeit der allumfassenden Fortschrittsgläubigkeit wurde sie gern den Superkonservativen, wenn nicht gar Reaktionären überlassen. Nun, in der Katerstimmung ist sie nicht so ganz einfach zurückzugewinnen. Zumindest in der Politik. Etwas anders mag das in der Literatur aussehen. Da galt die Erbepflege immer etwas mehr als sogar in der Bildenden Kunst, mit der am meisten der umstürzlerische Furor der modernistischen Modernen verknüpft wird.
Für die Reihe der kleinen ökograuen Heftchen des Verlagshauses J. Frank, in der bestimmte Begriffe poetologisch ausgedeutet werden, hat sich Tobias Roth des Stichwortes Tradition angenommen. Er tut es überraschen unaufgeregt. Das mag ihm dadurch gelingen, dass er gesamtgesellschaftliche Querverbindungen weitgehend ausspart, ganz im Literarischen verbleibt. Ein kleines bisschen l´art pour l´art.
Man wird im Gegenteil behaupten müssen, dass sich ausschließlich Niedagewesenes vollzieht. Eine steile Ausgangsthese, die Roth da dem Jahrtausende alten Spruch Nichts Neues unter der Sonne entgegen setzt. Zur Untermalung und gleichzeitigen Widerlegung jeder Vermutung, er hafte verstaubten Ritualen an, meint Roth in Bezug auf die Entdeckerfreude der Epoche mit dem seltsam-bezeichnenden Namen Renaissance: Tradition ist eine Öffnung des Horizonts, dadurch sollten wir uns durch den nationalistisch-industriellen Stumpfsinn des 19. Jahrhunderts nicht ablenken lassen.
Dass copia einst das Füllhorn der Nymphe Amaltheia meinte, ist heute kaum noch bekannt. Roth erinnert daran. Noch so ein schwankender Untergrund in Zeiten eskalierender Copyright- und Plagiats-Debatten. Wer kann denn was dagegen haben, aus dem Füllhorn zu schlecken? Für mich, intensiver mit Bildender Kunst als Literatur beschäftigt, ist de Quervergleich immer interessant. Und da scheint es unter den Bildkünstlern weitaus laxer zuzugehen als unter den Schreibern. Welcher Poet würde es denn wagen, ein Gedicht von Hesse oder George abzutippen, statt der Bodoni die Arial zu benutzen, auch an drei Stellen den Zeilenumbruch zu ändern und dann das Ganze als eigenes Werk auszugeben. Unter Malern, Fotografen etc. ist das unter dem Label Apropriation Art üblich. Die vor kurzem verstorbene Elaine Sturtevant wird für die besonders dreiste Art des Kopierens, also Füllhornnaschens, posthum regelrecht gefeiert.
Bezüglich der schreibenden Sparte diagnostiziert der Autor, mehr rückblickend auf frühere Jahrhunderte als für die Gegenwärtigen, dass es einen gewaltigen Unterschied zwischen Puristen und Eklektikern gibt. Wissend, dass Originalgenies, die Alles nur aus ihrem Inneren saugen, pure Legende sind, befürwortet Roth das Eklektische. Das Wort hat einen miesen Klang. Purist hört sich besser an, ist aber eigentlich das, was copia heute allgemein bedeutet. Der Copyshop an der Straßenecke als Literaturinstitut. Da kommt die Angestellte mit gerötetem Gesicht angerannt, wenn man paar Bücher zugleich auf die Glasplatte legt, die eigene Hand noch dazwischen, und den Deckel nicht schließt. Eklektik ist dort verboten.
Mit einem ausführlichen metaphorischen Verweis auf die Bienen, die aus unterschiedlichen Blüten, Gold an den Pfoten, besten Honig in die stereotypen Waben füllen, hat Tobias Roth aber nichts dagegen. Ein Abguss der Weltliteratur könne sowieso nicht entstehen, denn: Es wird immer mehr vergessen als überliefert. Das mag auch Vorteile haben. Nicht jeder Müll muss endgelagert werden. Leider landen aber auch versteckte Perlen in der Deponie. Das Gegenteil der Halde scheint der Kanon zu sein. Doch: Gerade die Höhenkämme des Kanons, die Werke der sogenannten Nationaldichter, lesen sich mehr und mehr wie ein Index dessen, was nicht gelesen wird. Auch nicht viel besser als Perlen vor den Planierraupen.
Für die ängstliche Frage, wie man angesichts des unvermeidlichen Erbes denn Qualität erkennt, hat Roth eine verblüffend pragmatische Lösung: Auch wenn man es nicht auf die Grenzziehung anlegt, was gute und was schlechte Literatur sei, wird sich unerträgliche Nachahmung zu erkennen geben. Man erkennt sie an der Reue, so viele Stunden mit der Lektüre zugebracht zu haben. Da hat es dann der Bildbetrachter doch einfacher. Hier reichen meist Sekunden des Hinschauens. Oder sie haben es schwerer, weil die Reue keine Narben hinterlässt.