Selten lasse ich mich von Preisvergaben bei der Auswahl meiner Lektüre beeinflussen. Nun habe ich aber doch ein Buch mit dem Aufkleber Georg Büchner Preis 2010 gekauft und gelesen. Es ist nicht das frischeste von Reinhard Jirgl, sondern der schon 2005 erschienene Roman Abtrünnig.
Erste Auffälligkeit ist die seltsame Orthografie. Wenn man da in WORD nicht die automatische Rechtschreibediktatur ausgeknipst hat, dreht der Schreiber am Rad. Es scheint nicht gerade das Lesen von 540 dichtbedruckten Seiten zu erleichtern, dass in der Manier Arno Schmidts die Sprache geschreddert wird. Und nötig wäre es auch nicht, wird doch auch ohne diese vordergründigen Effekte deutlich, dass Jirgl eine hohe Sprachbeherrschung hat. Doch man gewöhnt sich schnell an die seltsamen Schreibweisen. Häufig ist es nur Spielerei, doch Schöpfungen wie Tonphall, Legislateniker oder Hohn-oh-rar legen verborgene Bedeutungsschichten frei. Und die Ausrufe- oder Fragezeichen vor den Wörtern haben sogar eine sinnvolle dramaturgische Funktion.
Zwei Männer lassen sich von der Gravitationskraft Berlins einfangen. Eigentlich sind es aber Frauen, deren Weg in die Hauptstadt sie hinterherstolpern. Sehr spät im Buch trifft man auf die im Startkapitel als zweiten Haupthelden eingeführte Figur. Und nicht für lange. Im Vordergrund steht vielmehr ein aus dem Wendland stammender verkrachter Journalist, nebenbei halbtrockener Alkoholiker. Doch mit der Psychotherapeutin, die er beim Entzug kennengelernt hat, wird er auf Dauer in Berlin trotz oder wegen ihrer freizügigen Lebenseinstellung nicht auf Dauer froh. Sogar seine strenge Ex-Frau taucht in Träumen und im realen Leben wieder auf.
Eigentlich könnte der Stoff auf der Hälfte des Platzes ausgebreitet werden. Doch Jirgl beherrscht das Drumherumreden so gut, dass keine Langeweile aufkommt. Politisierende oder vulgärphilosophische Einschübe reichern den Inhalt an, wären aber verzichtbar. Man kann den Text wegen seiner spezifischen Struktur auch wie ein langes, sehr langes Prosagedicht lesen.
Letztlich funktioniert die dramatische Zuspitzung hervorragend. Nach all den Pirouetten und Abschweifungen explodieren die Konflikte, die lange Zeit auf kleiner Flamme schwelten. Gute Literatur also. Preiswert.
Reinhard Jirgl
Abtrünnig. Roman aus der nervösen Zeit
München: dtv 2008
Toll, das ist endlich mal ein gut geschriebener Post, vielen Dank. Muss man sich auf der Zunge zergehen lassen. Generell finde ich den Blog leicht zu verstehen und bequem zu lesen.