Ein Roman? Hat doch niemand behauptet. „Geschichten“ steht als Gattungsbezeichnung auf dem Schmutztitel. Sind aber Geschichten nicht auch ausgedachtes Zeug? Nicht unbedingt, doch immerhin war Katja Petrowskaja mit ihrem Buch Vielleicht Esther in der Kategorie Belletristik auf der Shortlist zum Preis der Leipziger Buchmesse ominiert. Während Helmut Lethen mit seinem sehr subjektiven, von persönlichen Erinnerungen gesättigtem Buch bei den Sachbüchern gewann. Andererseits hat Katja Petrowskaja den Bachmann-Preis geholt, der eigentlich für Belletristik und deren eindrucksvolle Vortragsweise vergeben wird. Gut, Kathrin Passig hat ihn auch schon mal für Sachliteratur bekommen. Pseudo-Sach. Dagegen ist Vielleicht Esther ausgesprochen fundiert in der Recherche und Faktentreue.
Parallelen zu einem tatsächlichen Roman ergeben sich. Olga Grasnowa, aus Aserbaidschan stammende russische Jüdin mit Arabisch-Kenntnissen, schrieb Der Russe ist einer, der Birken liebt. Petrowskajas Geschichte und die ihrer Vorfahren ist ähnlich verwickelt. Doch sie lässt die literarische Fiktion weitgehend draußen, schreibt eine Art von Reportage über ihre genealogischen Nachforschungen. Sie schreibt gut. So gut, dass es Literatur wird. Uns sie schreibt mit diesem Gefühl für die deutsche Sprache, die nicht ihre Muttersprache ist, wie es zumeist deutsch schreibende Zugewanderte können. Grjasnowa eben, oder Stanišič. Worte, die wir für selbstverständlich halten, werden geprüft. Und Wendungen. Wir haben übrigens bezahlt, sagt ein Mann zu ihr, als sie mit der Tochter zufällig im Museum vor eine Tafel mit Namen ermordeter jüdischer Familien in eine Reisegruppe gerät. Sie, die ukrainische Jüdin, russisch und deutsch sprechend, die ihre halbe Familie gewaltsam verloren hat, hat nicht bezahlt. Für die sachkundige Führung durch einen Guide.
Bezahlt werden aber die Mitarbeiter der Gedenkstätte des KZ Mauthausen. Als die Autorin dort anruft, und eine scheinbar automatische Stimme ihr schnarrend erklärt, die Leute seien in der Mittagspause, fragt sich Petrowskaja, darauf hinweisend, es sei erst neun Minuten vor zwölf: Bin ich so deutsch geworden?
Die Puzzleteile, die sie nach und nach zusammenträgt (die Suche sei zur Sucht geworden, schreibt sie), lassen Lücken. Vielleicht Esther. Ihr Vater weiß den Namen seiner Babuschka nicht, hat sie immer nur so genannt. Vielleicht Esther. Auch andere Fakten lassen sich nicht abschließend klären. Was aber zutage kommt, ist faszinierend, bedrückend, schockierend, manchmal unglaubwürdig. Ein Großonkel soll der Attentäter Judas Stern – welch bezeichnender Name – gewesen sein, der 1932 auf einen deutschen Botschaftsmitarbeiter in Moskau geschossen hat, eine weltpolitische Krise verursachend. Andererseits soll ein gewisser Molotow zeitweilig Nachbar im Kiewer Haus gewesen sein, wo die Petrowskis wohnten. Mehrere Familienmitglieder wurden Opfer des Massakers von Babi Jar, ausgerechnet der nichtjüdische Großvater Wasja aber kam in ein Lager, nach Mauthausen, überlebte, kehrte aber erst nach Jahrzehnten zurück zur Familie.
Die Wege der Suche nach den Vorfahren sind so verschlungen wie verzweigt. Russen, Polen, Ukrainer, Juden, Deutsche, Amerikaner, Israelis … Katja Petrowskaja hat das Buch auf Deutsch geschrieben, erklärt keine englischen Einschübe, wohl aber osteuropäische, um sich einem Leser verständlich zu machen, der eigentlich nicht zu ihrem Kulturkreis gehört. Zu welchem gehört sie aber wirklich? Vielleicht …. Angesichts des gegenwärtigen Konflikts in der Ukraine, wo wieder einmal Nachbarn aufeinander schießen, eine brennende Thematik.
So bleibt am Ende auch die Frage nicht ganz geklärt, die sie sich selbst stellt. Wie viel Fiktion ist in so einer Familiengeschichte zwangsläufig drin, auch wenn man eigentlich keinen Roman schreiben möchte? Sie erinnert sich an einen Fikus-Kübel, der von der Ladefläche des Fahrzeugs genommen wurde, damit ihr Vater noch Platz hatte. Damals, bei der Flucht aus dem umkämpften Kiew, lange vor ihrer Geburt. Ihr Vater kann sich daran nicht erinnern. Manchmal ist es gerade die Prise Dichtung, welche die Erinnerung wahrheitsgetreu macht.