Es scheint einen Schwellenwert zu geben, möglicherweise nach einer noch nicht bekannten wissenschaftlichen Formel erfassbar, nach dessen Überwindung ein Künstler fast alles machen kann, wass er will, und es wird von der Großkritik für gut befunden, mindestens so gut wie die vorherigen Werke. Diese waren offenbar gut, sonst hätte die Schwelle nicht überschritten werden können. Houellebecqs Elementarteilchen, außer Gedichten das einzige, was ich von ihm bisher gelesen hatte, fand ich tatsächlich spannend. Nun also Karte und Gebiet, ausgezeichnet mit dem Prix Goncourt.
Ein unglaublich schnelles Überschreiten des Schwellenwertes dichtet der Dichter seinem Protagonisten Jed Martin an, ein Künstler. Eine Ausstellung mit abfotografierten Michelinkarten macht ihn schlagartig bekannt. Einen weitere Ausstellung in einer Pariser Vorortgalerie nach sieben Jahren Pause, diesmal mit realistischen Gemälden, und er ist Multimillionär. Laut Auszug aus eine auf dem Buckrücktitel abgedruckten FAZ-Rezension sei dies ein höchst unterhaltsamer Gesellschaftsroman des Kunstbetriebes. Unterhaltsam? Na ja, zumindest lässt es sich ohnegroße Anstrengung lesen. Aber über den Kunstbetrieb scheint Houellebecq wesentlich weniger recherchiert zu haben als für Elementarteilchen über Swingerclubs. Selbst die Großverdiener der Branche dürften staunen über die Leichtigkeit, mit der dieser Martin da Karriere macht.
Die Idee, dass Houellebecq selbst als Figur im Roman auftaucht, zunächst als Ekel, dann als Vorwortautor für den Kunstkatalog, schließlich als fein mit einem Lasermesser zerstückelte Leiche, ist originell. Aber es geht gewaltig auf den Keks, wenn er in jedem zweiten Absatz über sich selbst schreibt Der Autor von …., als hätte er solch penetrante Werbung noch nötig. Etwa fantalieslos erscheint außerdem der letzte Teil des Buches, der quasi projektiv in die nähere Zukunft reicht. Schon jetzt, kaum zwei Jahre nach der französischen Erstausgabe, ist da offenbar die Realität auf anderen Pfaden unterwegs.
Apropos Pfad. Solch einer wird ja auch durch den Titel Karte und Gebiet gelegt, und im ersten Abschnitt wird mit Martins Fotografien und parallelen Ausflügen in die Provinz auch sichtbar, was das Anliegen des Autors sein könnte – das Abbild, selbst in wissenschaftlicher Nüchternheit und zusätzlicher Verfremdung – ist besser als das Abgebildete. Im weiteren Verlauf des Plots, der im Ganzen eigentlich stimmig ist, wird dieses Thema schlicht fallen gelassen wie Olga, Martins zeitweilige russische Geliebte. Ab und an kommt noch eine Ahnung auf, immer dann, wenn von den authentischen Werten bestimmter Regionen die Rede ist. Doch Houellebecq lässt letztlich keine Zweifel daran, dass dieses ersehnte Echte nur noch ein Fake sein kann.
Aber ist man erst mal über die Schwelle, kann man dem Werk auch einen beliebigen Titel geben. Irgendwer wird den Sinn schon herausfinden.