Das war nun wirklich nicht einfach. Seit etwa zwei Monaten liegt „Lyrik von JETZT zwei“ auf dem Tisch und ich habe auch immer wieder darin gelesen. Doch um mich zu einer Rezension durchzuringen war ein sehr langer Anlauf notwendig.
Lyrik von JETZT zwei
50 Stimmen herausgegeben von Björn Kuhligk und Jan Wagner
Berlin Verlag 2008
Der Anspruch ist groß: Einen gültigen Querschnitt dessen geben, was deutschsprachige Lyrik am Ende des ersten Jahrzehnts im noch frischen 21. Jahrhundert ist oder sein soll. Dass dabei durchweg mehr oder weniger junge Autorinnen und Autoren versammelt werden, erscheint mutig. Zwischen 23 und 38 Jahre alt sind die Auserwählten. Somit ist klar, dass es kein Kanon für künftige Generationen und Lehrbücher sein kann, sondern eher eine Sichtung frischen Materials. Diese Aufgabe stellen sich allerdings auch die meisten Literaturzeitschriften. Bella triste hatte mit der Sonderausgabe ein Jahr zuvor sogar vergleichbar hohe Zielsetzungen (kaum überraschend, dass sich manche Namen nun wieder finden lassen). Eine Buchausgabe mit solch programmatischem Titel sollte also noch mehr leisten. Die erste Ausgabe habe ich (noch) nicht gelesen, da sie aber fünf Jahre zurück liegt, müsste vielleicht auch schon ein Umbruch stattgefunden haben.
Lyrik von JETZT hat nicht nur zu klären, wer schreibt was in der heutigen Szene, sondern auch, was denn Lyrik jetzt eigentlich ist. Der Begriff wird ja unisono von den Herausgebern literaturwissenschaftlicher Abhandlungen als schwer greifbar gekennzeichnet. Eine Anthologie kann da sicherlich manchmal mehr Aufklärung leisten als stammelnde Definitionsansätze, die im nächsten Absatz wieder relativiert werden.
Also sehen wir doch mal hinein. Lyrik von jetzt ist offenbar grundsätzlich frei von Reimen aller Art. Allerdings haben sich da knapp vor Schluss Ausnahmen eingeschlichen. Ausgerechnet die deutsch schreibende Amerikanerin Ann Cotten ist sich nicht zu schade, „schaue“ ganz tradiert auf „traue“ und „Palingenese“ sehr riskant auf „Käse“ zu reimen. Und beim allerletzten im Bunde, Carl-Christian Elze, geht es dann weiter mit „augenschlitze“ zu „hitze“ und „ritze“. Ist es ein Zufall, dass diese Abweichler letztplatziert wurden? Eine alphabetische oder chronologische Ordnung liegt dem Band jedenfalls nicht zu Grunde. Da muss herausgeberische Absicht gewaltet haben.
Neben der weitestgehenden Reimabstinenz fällt auf, dass all das gehäuft auftritt, was moderne Lyrik lehrbuchmäßig auszeichnet (wobei diese Moderne volle 100 Jahre alt ist). Also grundsätzliche Kleinschreibung, wiederum mit marginalen Ausnahmen. Verzicht auf übliche Zeichensetzung (inklusive des fast schon verbindlich gewordenen &-Zeichens für „und“). Und schließlich hemmungsloses Enjambement. Das scheint das wichtigste Merkmal zu sein, mit dem sich neben dem Reimverzicht Lyrik der gehobenen Klasse von Amateurgedichten unterscheidet oder unterscheiden muss. Bei Sabine Eschgfäller, um recht willkürlich ein Beispiel herauszugreifen, liest sich das so:
auch die stufen vor dem haus wie die hoelle
wollen auf gneis spuren finden von mond
licht, auf dem kosmonauten-
pfad im park
sprudeln wenn
du staunst kinder
in anderen augen
Da steht dann nur noch die Frage, was denn der Trennstrich hinter „Kosmonauten“ soll. Ist das ein Setzfehler? Das Auseinanderreißen von Sätzen und Wörtern ergibt hier keinen poetischen Sinn, es ist Manierismus in Reinkultur. Doch kein gekonnter, denn selbst ein Sprechrhythmus lässt sich schwerlich finden.
Mit Wortneuschöpfungen, einem weiteren Etikett sich zeitgenössisch gebender Lyrik, wird allerdings recht sparsam umgegangen. Vielleicht kann man Vokabeln wie „Lichtschwenker“ oder „gesommert“ bei Marcus Roloff als solche ansehen. Doch die große Zeit der Neologismen ist offenbar vorbei.
Auch wenn Reime äußerst selten vorkommen, verzichten die Jungpoeten nicht auf Gliederungsschemata, die an herkömmliche Strophen erinnern. Hochkonjunktur haben dabei die früher nicht gerade gehäuft vorkommenden Zwei- und Dreizeiler. Der Grund dafür erschließt sich schwer.
Formale Mittel sind das eine, die Inhalte das andere. Die immer häufiger zu hörende Feststellung, die neue deutsche Literatur entdecke wieder das Gesellschaftliche, trifft wohl auf die Lyrik noch nicht zu. Nun würde es tatsächlich nicht ganz zeitgemäß wirken, wie Bertold Brecht oder Erich Fried klassenkämpferische Poeme herauszuposaunen, doch auch die Reflektion sozialer Reizthemen ist in der Auswahl kaum festzustellen, während die „Tippgemeinschaft 2008“, also das Jahrbuch des Deutschen Literaturinstituts einen Quantensprung in dieser Beziehung darstellt. Zwar gibt es bei Stefan Heuer ein Gedicht über die RAF, aber das ist eben auch schon ein gut abgehangenes Sujet. Eine Ausnahme ist das ruppige, an Social Beat gemahnende Versstakkato Stefan Schmitters, wo auch mal Bloch und Benjamin vorkommen dürfen. Ansonsten wie gehabt sehr viel psychologisiernde Innensichten und Beziehungskisten, auch angesichts des jungen Alters der Poeten erstaunlich viele Erinnerungen – tatsächliche oder erdachte.
Zweifellos findet man im Band kräftige Gedichte, die auch für Nichtexperten lesbar sind. Gleich die Eröffnung mit Nora Bossongs „Rattenfänger“ gehört dazu. Eine Entdeckung war für mich Herbert Hindringer, solch eine Sentenz bleibt einfach hängen:
als ich das dritte mal hinfiel, blieb ich liegen
es war ein schöner tag
für die, die mich betraten
manche stellten ihre uhr auf mir eine stunde zurück
Hier macht nun das Enjambement hinter „schöner tag“ wirklich Sinn. Die große Masse der in Lyrik von JETZT zwei versammelten Gedichte entsprechen aber sehr, all zu sehr dem Klischee, dass heutige Gedichte nur etwas für Leute sind, die selbst Gedichte schreiben oder Literaturwissenschaft studieren. Diese Isolation ist überwiegend selbst gewollt. Manche Poeten fragen sich ernsthaft, was sie falsch gemacht haben, wenn das Publikum zu Lesungen üppiger ausfällt als erwartet. Zementiert wird das System durch die Wettbewerbe. Die Sieger von gestern sitzen heute in der Jury, und wer morgen dazu gehören will, muss die Spielregeln einhalten. Falls sich daran nichts ändert, wird wohl auch Lyrik von JETZT drei das gegenseitige Schulterklopfen eines abgehobenen Zirkels sein.
Ich kann Deinem Unbehagen voll und ganz zustimmen und hatte dieselben Eindrücke. Ich frage mich immer: Darf man Poeten vorwerfen, dass sie sich so konsequent verweigern oder wird man dadurch zum Banausen? Sind unter ihnen nicht vielleicht doch einige Scharlatane und Blender, die ihren hermetischen Dadaismus verkaufen können, weil sich keiner traut, laut auszurufen, dass der Kaiser ja nackt ist?
Einige zugänglichere Autoren finden sich übrigens in der gleichfalls eben erschienenen Anthologie ganz ähnlicher Art: „Neubuch. Neue junge Lyrik“, hg. von Ron Winkler im yedermann Verlag.
Danke für den Hinweis, da werd ich mal reinsehen.
Absichtlich hatte ich vor meiner Rezension nicht die beiden im Poetenladen veröffentlichten Kritiken zum Buch gelesen, um mich nicht beeinflussen zu lassen. Nun habe ichs getan. Erstaunlicherweise gibt es punktuelle Übereinstimmungen zu meinen Eindrücken, vor allem aber allgemines Lob über Dichte und Qualität der heutigen jungen Lyrik, die ich eben nicht ganz nachvollziehen kann. Bei Frank Milautzcki heiß es schließlich noch „Lyrik geschieht wieder, nicht nur im social beat und nicht allein bei poetry-slams, und was geschieht hat literarische Relevanz. Es ist Zeit sich darüber zu freuen. Und sehr konzentriert streben diese Autoren in einen längst veränderten Literaturbetrieb hinein.“ Wieweit der Literaturbetrieb tatsächlich schon in der Veränderung ist, kann ich nicht so genau beurteilen. Zumindest werden in dem Zitat sogenannte alternative Formen der Literaturvermittlung zumindest erwähnt. Warum ist dann aber aus dieser Szene lediglich Nora Gomringer vertreten? Es müssen ja nicht unbedingt die all zu sehr nach Comedy klingenden Sachen sein, aber Bas Böttcher, Frank Klötgen, Pauline Füg oder Stefan Seyfarth hätten es durchaus verdient, in so einer Übersicht aufzutauchen.