Als vor zwanzig Jahren, im Heft 6/1993 des Hamburger Journals „Der Spiegel“, ein Essay des Schriftstellers Botho Strauß unter dem Titel „Anschwellender Bocksgesang“ erschien, war die Aufregung groß. Nicht wegen der Sprache. Dass Bocksgesang eine Übersetzung des griechischen Terminus Tragödie ist, wussten klassisch Gebildete schon. Und einen Artikel mit mehreren Nebensätzen zu beginnen, denen der Hauptsatz fehlt, darf man einem Poeten zugestehen. Doch der apokalyptisch raunende Ton des Textes, dieses verschwommen-düstere Andeuten, gehören schon zur Aussage dazu.
Ein Skandal war der Text nun auch nicht wegen der impliziten Kritik am ökonomischen Wachstum. Das hatte der Club of Rome schon zwei Jahrzehnte zuvor präziser getan – viel beachtet, doch folgenlos.
Das Unerhörte bestand vielmehr darin, dass Strauß ausdrücklich in Anspruch nimmt, dass man in Deutschland sich wieder als Rechter bezeichnen darf, ohne dass automatisch das Prädikat extrem angehängt wird: „Der Rechte – in der Richte: ein Außenseiter. Das was ihn zutiefst von der problematischen Welt trennt, ist ihr Mangel an Passion, ihre frevelhafte Selbstbezogenheit, ihre ebenso lächerliche wie widerwärtige Vergesellschaftung des Leidens und des Glückens.“ Somit ist auch das Feindbild umrissen – die Linke. Damit ist nicht die sich damals PDS nennende Partei gemeint, sondern die gesamte liberale Mehrheitsgesellschaft inklusive der Medien, angeblich erfüllt von Hass auf alles Deutsche. „Intellektuelle sind freundlich zum Fremden, nicht um des Fremden willen, sondern weil sie grimmig sind gegen das Unsere und alles begrüßen, was es zerstört (…).“ So als wisse Strauß nicht um die geschichtliche Herkunft der parlamentarischen Gesäßgeografie, verlässt ihn hier sogar seine Sprachgewalt: „Seltsam, wie man sich `links´ nennen kann, da links von alters her als Synonym für das Fehlgehende gilt.“ Da es jedoch nur wenige unverbogene „Abgesonderte“ wie ihn gibt, die den „Gewalten des Blödsinns“ heroisch widerstehen, sieht Botho Strauß die Katastrophe schon wetterleuchten.
Was ist aus der Sicht des Jahres 2013 aus seinem Fanal geworden? Seiner persönlichen Karriere hat es, trotz vieler Anfeindungen und Boykottaufrufe, nicht ernsthaft geschadet. Strauß gehört zu den häufig gespielten Dramatikern und vielverlegten Erzählern des Landes.
Auch wenn er den Text wohl gar nicht als Manifest verstand, hatte er doch diese Wirkung. Ein reichliches Jahr später erschien mit „Die selbstbewußte Nation“ ein Sammelband, in dem sich die von ihm Inspirierten zusammenfanden. Die Liste der Autoren reicht von Rüdiger Safranski bis Hans Jürgen-Syberberg, von Ernst Nolte bis Michael Wolffsohn. Nur der Kunstkritiker der FAZ, Eduard Beaucamp, hat seinen Beitrag für die Zweitauflage zurückgezogen. Als Pendant zu den verhassten 68ern sah sich die Männerriege als die Generation der 89er, auch wenn erst in den Folgeauflagen des Buches mit Steffen Heitmann und Wolfgang Templin zwei Ostdeutsche hinzukamen, die einen individuellen Bezug zum Epochenumbruch haben, der mit dem Datum 1989 assoziiert wird. Dass man heute nachschlagen muss, was denn mal diese 89er waren, bedeutet nicht, dass sie keine Spuren hinterlassen hätten.
Die heutigen Neuen Rechten sind hin- und hergerissen zwischen dem romantisierten Dasein des einsamen Waldgängers, wie von Strauß wortreich ausgemalt, und dem Anspruch auf Vertretung der wahren Interessen des Volkes. An den Themen hat sich wenig geändert, auch wenn der 1993 noch nicht so relevante Anti-Islamismus heute im Vordergrund steht. Ansonsten aber die ewige Klage um den Verlust der Werte, die Dekadenz der Hedonisten, die Medien im Würgegriff der Linken, die Überfremdung der deutschen Kultur. Im Ringen um die Hegemonie im vorpolitischen Raum, einen beim Marxisten Antonio Gramsci entlehnten Begriff, sind sie keinen Schritt voran gekommen. Neuester Hoffnungsträger sind deshalb die „Identitären“, eine Jugendbrigade, die gleich wieder mal als eine Generation bezeichnet wird. Sieht man dann Berichte über deren öffentliche Aktionen, sind selten mehr als zwanzig Leute zu erkennen.
Wer nicht selbst mit den Neuen Rechten sympathisiert, könnte sich angesichts des verhallenden Bocksgesangs also beruhigt zurücklehnen. Doch der Blick zu Nachbarn zeigt, dass es nur einer charismatischen Persönlichkeit wie Le Pen, Haider oder Wilders bedarf, um Massen zu mobilisieren, die noch nie von Spengler, Jünger oder Botho Strauß gehört haben.
(Erstveröffentlicht in der Leipziger Volkszeitung)