Beim Aufschlagen der neuen edit lese ich zuerst den Namen Maruan Paschen. Der Junge hat mich mal gerettet. Leichtsinnig hatte ich zugesagt, beim ersten Chemnitzer Literaturwettbewerb für Jugendliche poet bewegt als Juror zu fungieren. Nach etwa dreißig Texten – nur ein Bruchteil des Stapels – wollte ich aufgeben. Dieses Emo-Geningele ging mir gewaltig auf den Sack. Und dann kam Paschen mit einem wunderbaren Text. Ich habe das Jurieren schließlich durchgehalten, auch wenn abgesehen von Franziska Wilhelm nicht viel Nennenswertes folgte.
Das ist Jahre her. Maruan Paschen hat unterdessen in der Schweiz Schriftstellerei studiert, ist dadurch zum Glück nicht schlechter geworden. Im Gegenteil. Muammers letzter Tag ist starke Literatur. Den Alltag in einem arabischen Land versteht Paschen sprachlich so leicht und doch tief zu schildern, dass gerade dadurch ein heftiger Kontrast zum dramatischen Geschehen entsteht.
Nach so einem Auftakt haben es die nächsten Autoren schwer. Vor allem wenn Lyrik kommt. Doch die Gedichte von Tristan Marquardt und Birgit Kreipe gehören zum Glück zu den nicht ganz so hermetischen Hervorbringungen des heutigen selbstreflexiven Poesiebetriebes. Hinzu kommen Übersetzungen von Gedichten Shane Andersons und eine wohl computergenerierte Litanei Hannes Bajohrs. Erträglich.
Die Prosatexte von Thomas Pletzinger, Inga Machel und Kennah Cusanith haben mit dem von Paschen gemein, unerfreuliche bis drastische Ereignisse literarisch eigenwillig – jeder auf seine eigene Weise – zu erzählen. Pletzinger summiert das „Verschwinden“ jüdischer Menschen, Machel erinnert sich scheinbar oder tatsächlich an die Abschiebung in ein eiskaltes Kinderheim, bei Cusanith ist es die Nahtoderfahrung des Fast-Ertrinkens – ausgerechnet in der namibischen Wüste – die ein Déjà vu hervorruft. Dazwischen launig erzählte Erinnerungen von Wayne Koestenbaum an „seine Achtziger“. Auch hier die Balance von Schweben und Absturz, schwul sein in New York in den Zeiten von Aids.
Wo die Essays beginnen, wird in dieser edit-Ausgabe nicht genau definiert. Der Text von Koestenbaum könnte schon dazu gehören. Der Übergang ist fließend. Denn nach Manier des Journals wird der Begriff Essay extrem weit gefasst. Danilo Scholz denkt über die gesellschaftliche Rolle von Fußball nach. Jan Brandt führt Tagebuch in der Berliner Bohéme. Herausragend ist aber der Text Helmut Kohl läuft durch Bonn des Duos Nolte Decar. Wie bei manchen Film- oder Buchtiteln folgt dem Haupttitel ein zweiter, getrennt durch oder. Hier geht das Spiel aber weiter. Jedem Oder folgt ein nächstes. Helmut Kohl muss viel wandern, auch seine drei Buben, manchmal sogar Hannelore. In Wortspielen werden berühmte Filme oder Romane verhohnepiepelt. Nonsens auf höchstem Niveau.
Selten habe ich eine Literaturzeitschrift so genossen wie diese edit 65.