Kann man so etwas als Roman bezeichnen? Zwei jugendliche Aufschneider – Sam und Hailey – erzählen die gleiche Geschichte. Um die Abweichungen in der Sichtweise auszukosten, sollte der Leser das Buch nach jeder Doppelseite wenden, um in die Gegenrichtung weiterzulesen. Jetzt ist „Only Revolutions“ von Mark Z. Danielewski auf Deutsch erschienen.
Nach tastenden Versuchen der Lektüre kriegt man den Dreh raus. Um das Prinzip noch zu betonen, hat das Buch 360 Seiten wie der Kreis Grade, und es sind alle O-Buchstaben und alle Nullen andersfarbig gedruckt.
Doch nicht allein die Spiegelung des Handlungsstrangs weicht vom Schema herkömmlicher Romane ab. Auch die Sprache der treffend Canto genannten Textblöcke von je 90 Wörtern auf einer Seite hat mehr Poesie als die Dichtkunst manches Nobelpreisträgers: „Abadochski habe ich viel abzufackeln. Keine Zeit zu verdackeln.“ In die gedrechselten Wortspiralen mischt sich immer wieder Alltag: „Ich komme vom Weg ab. Abwegig. Aber ich bin der Weg, wenn ich will. Von Schweinsteiger über Lahm zu Bombermüller.“ Dank der Übersetzer Gerhard Falkner und Nora Matocza, die zweifellos einen harten Job hatten, kommen sogar Pittiplatsch, Ata und die Spree vor.
War der Kern von Mark Z. Danielewskis erstem Roman „Das Haus – House of Leaves“ eine Horrorgeschichte, so erzählt er mit „Only Revolutions“ ein Road Movie, wie es in der amerikanischen Literatur nicht selten vorkommt. Hailey und Sam, für immer 16, prallen bei ihrer Flucht vor sämtlicher Norm aufeinander und können sich nicht mehr loslassen, einen heißen Sommer lang. Ihr Auto, das in jeder Strophe einer anderen Marke zugehört, trägt sie durch die USA, ausgerüstet mit zwölf Krügen erbeutetem Honig. Schlägereien, Beschimpfungen, Orgien, Trips und Besäufnisse sind Wegmarken in ihrer ziellosen Unrast. Einige Wochen bleiben sie allerdings in St. Louis am „Mischischischi“ hängen, um sich in einer Kaschemme die Nahrung zu verdienen, deren Herkunft in der sonstigen Story so wenig rational fassbar ist wie die von Kleidung, Wagen, Unterkunft.
Für seine sorgfältig konstruierte Saga hat sich Danielewski von Walt Witman, dem lyrischen Gründungsvater, das beinahe biblische Pathos ausgeliehen, von Jack Kerouac aber den Hang zum Trash. Zu diesem Gemenge kommt ein enzyklopädischer Anspruch. Neben der Auflistung von Automarken wird auch der gesamten amerikanischen Tier- und Pflanzenwelt eine Rolle zugedacht. Diese Mehrfachkodierung einer reichlich späten Postmoderne betont der 1966 geborene Autor mit ambitionierter Typografie. Die gesamte Buchgestaltung bis hin zu den zwei verschieden gefärbten Lesebändchen ist unverzichtbarer Bestandteil der verschlungenen literarischen Konstruktion.
Dazu gehören auch die Randspalten neben den Cantos, in denen Ereignisse der amerikanischen und internationalen Geschichte bruchstückhaft aufgelistet werden, durchsetzt von ebenso fragmentarischen Zitaten. Fanclubs des Schriftstellers werden sicherlich jahrelang mit der Dechiffrierung beschäftigt sein. In Sams Erzählung beginnt die Chronik mit dem 22. November 1863, kurz nach Lincolns Gettysburg-Rede im Bürgerkrieg. Hailey startet genau 100 Jahre später, dem Tag von Kennedys Ermordung. Ab 2006, dem Jahr der Originalausgabe des Buches, bleiben die Spalten leer.
Vorbei an zertretenen Waldschnäppertyrannen und vertrocknenden Flecken Nördlichen Storchschnabels rutscht das ewige Paar in einen eisigen Herbst. Doch wenn sie nicht selbst gestorben sind, wird sich bei Nachauflagen des Romans die marginale Demokratie um einige Revolutionen weiter gedreht haben: „Alle verraten den Traum, aber wen kümmert’s? Oh Sam, nein, ich könnte niemals von dir gehen.“
Mark Z. Danielewski Only Revolutions. Die Demokratie von Zweien dargelegt & chronologisch angeordnet. Aus dem amerikanischen Englisch v. Gerhard Falkner, Nora Matocza. Roman. Tropen Verlag; 365 Seiten, 24,95 Euro
Die Rezension wurde erstveröffentlicht in der Leipziger Volkszeitung vom 21. April 2012.