Schriftsteller wie auch Nichtautoren nutzen Twitter als Experimentierfeld für literarische Miniaturen
Die ganz großen Namen der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur wird man allerdings kaum mit einem eigenen Twitter-Account finden. Und wenn doch, dann nur um auf Neuerscheinungen, Lesungen oder Preisverleihungen hinzuweisen. Ein Marketinginstrument, nicht mehr. Dass ein Großmeister wie Peter Handke dennoch auf Twitter opulent vertreten ist, liegt an seinem Ausspruch, mit dem er die Kritiker an der Nobelpreisvergabe abfertigen wollte: „Ich bin ein Schriftsteller, komme von Tolstoi, ich komme von Homer, ich komme von Cervantes …“ Das war ein gefundenes Fressen für Häme und unzählige Abwandlungen.
Seit es die sogenannten Sozialen Medien gibt, werden sie auch von Literaten genutzt. Die erzwungene Isolation samt der Absagen von Veranstaltungen bis hin zu großen Buchmessen verstärkt aber den Trend zum Ausweichen ins Digitale. Twitter hat dabei längst das behäbig gewordene Facebook überholt. Das erscheint unlogisch, denn trotz der Verdoppelung der zulässigen Zeichenzahl auf jetzt 280 scheint das kein Medium für epische Ergüsse zu sein. Doch bereits 2009, als das neue Medium gerade zwei Jahre alt war, wurde der Begriff Twitteratur geprägt.
Für manche professionellen Autoren ist Twitter so wie andere Plattformen vor allem ein Mittel der gesellschaftlichen Debatte, also mehr Journalismus der anderen Art als Belletristik der anderen Art. Für manche aber ist das Medium eine Spielwiese zum Ausprobieren mehr oder weniger ernst gemeinter Skizzen, wieder andere betreiben beides – die Polemik und das Spiel. Dass gerade Leute, die in der Spokenword-Szene ihre Wurzeln haben, besonders aktiv sind, verwundert nicht. Dazu gehören zum Beispiel André Herrmann, Bov Bjerg, Kirsten Fuchs und Michael Bittner.
Ausgesprochen produktiv sind aber auch Saša Stanišić und Clemens J. Setz. Dieser ist sich nicht einmal für Schüttelreime zu schade: „Tumult bei den Zierfischen: Drei knurren, vier zischen.“
Das Verlockende an Twitter wie auch anderen Medien ist die praktisch fehlende Schwelle. Man muss nicht bei Verlagen betteln, mal ein Gedicht wenigstens in eine Anthologie reinzubekommen. Man veröffentlicht es einfach, fertig. Dass Twitter nur 280 Zeichen zulässt, ist kein Hemmnis. Wer sich dadurch nicht zur Verknappung animieren lässt, macht eben aus dem Tweed einen Thread oder fügt den zu langen Text als Bild ein.
Zwar führt das zu einer gigantischen sprachlichen Müllhalde. Doch wer zu filtern weiß, findet Perlen, auch an überraschenden Stellen. So beispielsweise unter der Adresse @kochkunstRecook. Das ist Dadaismus aus dem Thermomix: „Hernach die Sem̃el darzu, und stößt dies alles im Mörser klein“ oder „Der kräftige Choleriker nun kann und überhaupt so wie Pfirschen und Aepfel zu Parmesankäse harmoniren.“ Und eine bekannte Leipziger Journalistin veröffentlicht unter @frau_fly fast täglich an Aphorismen erinnernde Sentenzen wie „Über Schneeresten provinzt die Stadt in der Sommerlautstärke ihrer Sonntage“.
Paradox aber muss es erscheinen, dass vor Kurzem ein Heft namens „Lytter“ erschienen ist – Twitter-Lyrik auf zusammengeheftetem Papier. So wie in der Bildenden Kunst unter dem Etikett Post-Internet das Digitale ins Analoge übersetzt wird, hat hier ein Team junger Leute Fundstücke von Tweets, die man als Lyrik ansehen kann, mit Illustrationen versehen und zu einem soliden Literaturjournal verarbeitet. Die Besonderheit ist nur, dass zu jedem Text die Zahl von Kommentaren, Retweets und Likes zum Zeitpunkt des Erscheinens angegeben ist, außerdem natürlich die Adressen der Autorinnen und Autoren. Eine Leseprobe von @SelinaKristin: „die stille im teletext / und ein vorletzter ozean / haltet die lüfte an, brennesseln / die dachpappe noch warm / laika wäre heute 66 / keine angst, hier kannst du stehen / sternenstauballergie / muscheln sammlen, aber wofür // die eisbären werden zuletzt geschlachtet“ Vier Kommentare, null Retweets, ein Like. Schade eigentlich.
Im Vorwort des Büchleins heißt es: „dieses magazin ist der zwingend scheiternde versuch, lyrik auf twitter abzubilden.“ Kann sein, einer schöner Versuch ist es auf jeden Fall.
Lytter. Zine für Lyrik
Kultklecks e.V.
120 Seiten, 10 Euro