Die Brille ohne Gläser und Rahmen

Eine Kritik der „Kritik der Mitte“ von Tobias Prüwer

Ich kenne Tobias Prüwer vor allem als Journalisten und zeitweiligen Chefredakteur des Leipziger Stadtmagazins Kreuzer, aber auch durch seine ziemlich intensiven Aktivitäten auf Social Media-Kanälen. Bei einer schon im Titel so bezeichneten Kritik der Mitte musste ich auch dieser Kenntnis heraus annehmen, dass ein Lob der Ränder oder zumindest eines Randes eingeschlossen ist. Das passiert nicht, soviel kann ich vorab sagen.

Gleich zu Beginn sagt er bezüglich der Mitte: „Sie lässt sich erst durch die Nichtmitten, ihre Position zwischen Extremen okalisieren. Diese Negativdefinition ist ein Merkmal der Mitte. (S. 14). Dennoch nähert er sich dem Begriff von verschiedenen Seiten – historisch, geografisch, geometrisch. Die Exkurse sind umfangreich, dabei auch unterhaltsam. Wichtig ist die Bemerkung zur „Geburt der Gegenwart“ im 17. Jahrhundert, als das Bewusstsein für historische Prozesse zu einer Empfindsamkeit für die Mitte zwischen Vergangenem und Künftigen führte. Von hier an machte man Zukunftspläne, man wurde nicht mehr vom dräuenden Kommenden erstickt, sondern fühlte eine Freiheit im Entwerfen. (S. 26)

Manchmal wird die Suche nach dem Begriff der Mitte sehr spezifisch. Den Begriff Mitteldeutschland in seiner heutigen Verwendung in Frage zu stellen, ist berechtigt. Das dann aber mit Mittelgebirgen in Beziehung zu bringen, wird Quatsch. So mag es vielleicht auch der einzige sachliche Fehler des Buches sein (den ich jedenfalls finden konnte), dass Mittelgebirge bei 1.500 Metern anfangen. Die würde es dann hier gar nicht geben. Der Fichtelberg liegt wie der Brocken oder der Inselberg deutlich darunter. Ist eigentlich auch nicht wichtig.

Überraschend hingegen ist, dass Prüwer erst fast in der Mitte des Buches auf das Politische zu sprechen kommt. Das passiert aber zunächst auch sehr historisch. Es geht mit Platon und anderen antiken Denkern los.

Den offenbar nicht erst heute, sondern seit Jahrtausenden so beliebten Begriff der (gemäßigten) Mitte zu kritisieren, ist naheliegend. In der Gegenwart betrifft das, abgesehen von entfernteren Ableitungen, die doppelte Bestimmung als soziale Mittelschicht wie auch parteipolitische Mitte. Bezüglich der ökonomischen Mittelschicht habe ich auch ernsthafte Fragen. Meine Frau als Solounternehmerin mit mehr als 60 Stunden Arbeitszeit pro Woche bei bescheidenem Einkommen gehört offensichtlich ebenso dazu wie ein Friedrich Merz, der aus dem Cockpit seines Privatjets verkündet, „gehobene“ Mittelschicht zu sein.

Schwieriger wird es beim politischen Spektrum. Dass es Differenzierungen im politischen Verhalten gibt, kann auch Tobias Prüwer nicht leugnen. Aber eine politische Mitte gibt es für ihn nicht, auch nicht in Bezug auf bestimmte Wertvorstellungen. Es ist für ihn eine „Identitätspolitik des Normalen“ (S. 125). Das schwer zu Verstehende besteht dann aber darin, dass es für ihn deutliche Abweichungen von der vermeintlichen Mitte auch nicht zu geben scheint. Alles ein politischer Einheitsbrei?

Eine Schlüsselstellung hat der auf Seite 117 beginnende Abschnitt mit der Überschrift Glücksmaschine Hufeisen: „Gegen jeden Extremismus“. Die aus der Totalitarismustheorie Hannah Arendts von konservativen Politikwissenschaftlern wie Eckardt Jesse und Werner Patzelt abgeleitete Hufeisen-These besagt, dass sich die politischen Ränder annähern, lechts und rinks (Ernst Jandel) also doch zu velwechsern sind. Gerade angesichts der Äußerungen des Wagenknecht-Flügels der Linkspartei fällt es zunehmend schwerer, diese These komplett zu falsifizieren. In Sozialen Netzwerken wiederholte Behauptungen á la „Das sind doch keine Linken.“ helfen da nicht weiter.

Extremismus gibt es für Tobias Prüwer nicht. Zumindest keinen linken. Das Hufeisen ist schon lange zum Universalargument geworden, jede Kritik an sich links nennenden Idioten abzuschmettern. Da braucht es keine weiteren Argumente. Hufeisen eben. Fertig.

So bleibt dann am Ende der Lektüre nach der durchaus verständlichen Kritik an der inhaltsleeren Mitte am Ende doch die Frage, ob es überhaupt ein politisches Koordinatensystem gibt, wenn sowohl Mitte wie auch Ränder gar nicht existieren. Gibt es eigentlich Demokratie? Offensichtlich nicht. Wahlen sind Blödsinn.

Tobias Prüwer: Kritik der Mitte. Der Nabel der Welt. Parodos 2022.

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2 Antworten auf Die Brille ohne Gläser und Rahmen

  1. GH sagt:

    Sag mal, Jens, warum arbeitest Du Dich so an diesem Tobias P. ab?
    Der spielt doch mindestens 3 bis 4 Ligen unter Dir. Viel spannender
    wäre es doch, die Bewertung dieses Buches von Dir zu lesen:

    https://www.buchkomplizen.de/endspiel-europa.html

    GvH

  2. admin sagt:

    Verstehe ich nicht ganz. Das Buch finde ich schon interessant, auch weil ich mich mit dem Problem der „stillen Mitte“ beschäftigen muss, das im Bidbook der Chemnitzer Kulturhauptstadt so prominent steht. Aber wenn man sowohl auf die Mitte als auch die Ränder verzichtet, fehlt mir eben jedes politische Koordinatensystem. Differenzen gibt es ja unübersehbar.

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