Lindenau bei Nacht

Gerade bin ich zurückgekehrt vom „Poet 5“, der aktuellen Sause des Poetenladens, die im Kunstraum D 21 nahe des Lindenauer Marktes stattfand. Ambiente und  Literatur passten gut zueinander – etwas unterkühlt und dennoch angerauht. André Rudoph las Lyrik, Olaf Schmidt erzählte sehr viel über seinen neuen Roman, um letztlich noch einige Passagen daraus vorzutragen. Ron Winkler schließlich brachte Gedichte des amerikanischen Spokenword-Aktionisten David Lerner nahe, welcher sich 1997 totgefixt hat. Das wirkte etwas eigenartig. Wer ein kleines bisschen die Spokenword-Szene kennt, kann sich bei den heftigen Texten ausmalen, wie vermutlich ein Original-Vortrag Lerners geklungen haben mag. Die ziemlich literaturinstitutionelle Lesung Winklers will da nicht so richtig dazu passen. Auch die dann folgenden eigenen Gedichte Ron Winklers haben eigentlich das beste Potenzial für eine mitreißende Performance. Die kam aber nicht, auch wenn die Straßenbahnen an der Demmeringstraße fast durch den Raum zu fahren schienen – ein perfektes Ambiente eigentlich. Schade.

Die akademischen Autoren pflegen eine Abneigung gegen Poetry Slam. Auch wenn es stimmt, dass da nicht durchweg hochwertige Literatur geboten wird, hat diese Veranstaltungsform den Vorteil, dass die Vortragenden gezwungen werden, ihre Texte auch wirklich dem Publikum nahe bringen zu müssen. Diese Schule täte vielen Hochliteraten ganz gut.

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2 Antworten auf Lindenau bei Nacht

  1. AH sagt:

    Lieber Jens Kassner,

    ich habe gern Deine Impression des Abends gelesen. Und ich kann auch Deine Haltung verstehen, sie ist legitim. Dennoch kann und sollte man auch andere Aspekt berücksichtigen. Es mag sein, dass David Lerner als Spoken-Word-Dichter wild, laut, furios gelesen hat – es kann genauso sein, dass er ganz moderat gelesen hat. Wie auch immer, selbst das ist nicht entscheidend dafür, wie jemand HEUTE seine Gedichte liest, zumal übersetzte Gedichte. Auch ein Spoken-Word-Dichter kennt sicher nicht nur die Bezeichnung forte fortissimo, sondern auch mezzoforte oder piano.

    Dabei gibt es jene – ich denke an manche Lehrer – die laut in die Klasse hinein „Ruhe“ brüllen, und jene, die ihre Stimme sehr bewusst absenken, leiser werden, so dass vor Verwunderung die Menschen im Raum im Gespräch verstummen, aufhorchen, sich konzentrieren.

    Genau das hat Ron Winkler meines Erachtens erreicht.

    Hinzu kommt ein künstlerischer Aspekt. David Lerner ist historisch, wir können ihn nicht eins zu eins wiederaufleben lassen, ihn gar im Ton imitieren. Wir transportieren sein Sprechen in die Jetztzeit, Ron Winker tut das. Und gerade dieser Gegensatz zwischen Inhaltsvehemenz und Vortragspräzision ist elementar für mich, um die Gedichte heute, hier und jetzt, aufzunehmen. Wäre es nicht dilletantisch, wollte ein Vortragender einen toten amerikanischen Undergrondpoeten mit einem wild-aktionistischen Vortrag zum Leben erwecken? Wer seine eigenen Gedichte sich aus dem Leib schreit, mag authentisch sein, aber ich kann mir nicht in gleicher Weise die Gedichte eines anderen aus dem Leib schreien.

    Im Grunde ist der Gegensatz zwischen Spoken Word Poetry und – ja – „normal“ gelesener Lyrik künstlich. Es gibt fließende Übergänge, und es gibt sicher eine Reihe von Dichtern, die sehr „engagiert“ vortragen und lange noch keine Dichter sind, deren Produkte oder deren Vortrag man unter Slam Poetry subsumiert.

    Dass die Straßenbahnen akustisch durch die Buch- und Häuserzeilen fuhren, war wie ein kleines Signal – wie Leben in der Stadt. Das war gut, das war genau richtig intoniert, als wären die Straßenbahnen nur bestellt worden, um uns etwas Großstadtwirklichkeit zu spendieren.

    Mit herzlich-kollegialem Gruß

    AH

    PS: Wer Ron Winklers Davis-Lerner-Lesung hören mag, kann hier hineinhören, sogar direkt in den Vortrag des Abends im D 21:
    http://www.poetenladen.de/david-lerner.htm

  2. admin sagt:

    Lieber Andreas,
    eine Rekonstruktion von Lerners Vortragsart ist wohl weder möglich noch sinnvoll. Aber ich wünsche mir eben bei Lesungen der traditionellen Art etwas mehr Dynamik, was nicht mit Schreien oder durchweg heftiger Aktion zu verwechseln ist. Und wahrscheinlich habe ich da mit Ron Winkler nicht unbeding das richtige Subjekt der Kritik ausgewählt. Er kann gut vortragen, das will ich gar nicht in Abrede stellen. Nur ist mir eben gerade bei ihm eine gewisse Diskrepanz zwischen den nicht gerade zurückhaltend formulierten Inhalten (auch bei seinen eigenen Gedichten) und der ruhigen Lesart aufgefallen.
    Allerdings habe ich eben schon etliche Lesungen gehört, auch mit ziemlich bekannten Namen, wo der Text überhaupt nicht gut transportiert wurde und dies den Autoren scheinbar nichts ausmachte oder sie es nicht bemerken wollten. Und dafür habe ich dann wenig Verständnis. Damit ist aber nicht der gestrige Abend gemeint.
    Natürlich kann man es mit der Performance auch schnell mal übertreiben, aber etwas mehr davon wünsche ich mir eben doch bei vielen Literaturveranstaltungen.

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