Schießscheibenbildanalyse

Aus der heftigen, doch indirekt ausgetragenen Auseinandersetzung mit dem Malerstar Neo Rauch hat der seit fünf Jahren in Leipzig lebende Kunsthistoriker Wolfgang Ullrich ein Buch gemacht. Das rund 150 Seiten umfassende Büchlein im Taschenformat trägt den Titel Feindbild werden. Den Wortbestandteil Bild muss man hier wörtlich nehmen. Den Untertitel Ein Bericht weniger, denn es ist natürlich keine breitgewalzte Darstellung des Vorganges, sondern eine theorielastige Reflexion. Und dann gibt es noch einen zweiten Untertitel: Der neue Ost-West-Konflikt. Der hat es in sich, scheint es sich dabei doch zunächst gar nicht um Kunsttheorie zu handeln.
Die Vorgänge sind weitgehend bekannt. Ullrich schreibt in Die Zeit 21/2019 einen Artikel Auf dunkler Scholle über den Rechtsdrall unter einigen deutschen Intellektuellen, in dem er auch auf Rauch verweist. Dieser rächt sich mit einer großformatigen, als Ölmalerei ausgeführten Karikatur Der Anbräuner im selben Blatt. Wochen später wird es in einer Charity-Auktion vom Immobilienhai Christoph Gröner für eine dreiviertel Million erworben.
Daraus ein Buch zu machen, klingt nach Narzissmus. Doch Ullrichs erster Satz ist Es gab gute Gründe, dieses Buch nicht zu schreiben. Ein längerer Prozess des Nachdenkens und Umdenkens (er hielt das Bild zunächst für ein Selbstporträt Rauchs) hat ihn dann doch zu dieser Schrift, die eben kein Bericht ist, veranlasst.

Es geht um den Begriff Autonomie der Kunst. Für diesen aber gibt es unterschiedliche Auslegungen. Ich habe mal vor langer Zeit gelernt, dass damit die Befreiung künstlerischen Schaffens vom religiösen Dienstleistung im späten Mittelalter gemeint sei, also das Werden der Kunst zu dem, was man heute damit meint. Wolfgang Ullrich fasst ihn enger, im Sinne der verfassungsmäßig verbrieften Kunstfreiheit. Also: Wenn etwas klar als Kunst erkennbar ist, kann man fast alles sagen oder darstellen. Als Musterbeispiel führt er Jonathan Meeses wiederholten Hitlergruß an, wofür er vor Gericht freigesprochen wurde unter Betonung der Kunstfreiheit. Meese ist Westdeutscher, Rauch Ostdeutscher. Sein Anbräuner ist zweifellos durch die Kunstfreiheit gedeckt. Warum also diese Betonung ostdeutscher Spezifika? Ullrich führt die verschärfte Behauptung der Autonomie darauf zurück, dass man hier Erfahrungen mit der Unfreiheit habe und diese errungene Freiheit nun unbedingt verteidigen wolle, gerade auch gegen Westdeutsche, die alles besser wissen und nun neue Regeln durchdrücken wollen.
Für solche Bestrebungen gibt es sicherlich Belege, der Widerstand erscheint verständlich. Aber stimmt die Ost-West-Teilung? Im einführenden Kapitel geht es allgemein um restriktive Tendenzen, die unter den Schlagwörtern Politische Korrektheit, Identititätspolitik und Cancel Culture verortet werden können. Zum Beispiel die Floskel vom „alten weißen Mann“. Dadurch aber passiert zweierlei. Wer befürchtet, selbst der Mentalität eines »alten weißen Mannes« bezichtigt zu werden, wird sich von allem distanzieren wollen, was damit assoziiert ist, fortan also etwa auch auf uneingeschränkte Plädoyers für die Kunstfreiheit verzichten und sich nicht länger auf Topoi der romantisch-westlichen Kunstreligion wie den Geniekult berufen. Doch wer umgekehrt die Vormachtstellung des »alten weißen Mannes« bewahren oder zurückgewinnen will – oder schon die Rede davon für Unsinn hält –, identifiziert sich auf einmal mit allem, was bedroht erscheint. Und eine Seite später: Eine sachliche Diskussion über Möglichkeiten und Grenzen freier Kunst ist schon jetzt kaum mehr möglich. Okay, da stimme ich zu. Aber diese Fanatiker:_*Innen der Korrektheit gibt es doch unabhängig von der geografischen Herkunft, oder? Ich sehe es eher als Generationenfrage. Leute, die zwar weiß und manchmal männlich sind, überwiegend auch noch heterosexuell, wollen nicht wahrhaben, dass sie in Kürze »alte weiße Männer« sind, die Vorwürfe also sie selbst betreffen.
Ich bin fast der gleiche Jahrgang wie Neo Rauch und noch etwas ostdeutscher als er. Im „Tal der Ahnungslosen“ aufgewachsen, hatte ich mit fast 30 zum ersten mal Zugang zum Westfernsehn. Das ist für mich aber kein Grund, rechten Parolen hinterherzulaufen. Soweit ich es übersehen kann, sind Rauch und Axel Krause (auf den Ullrich auch eingeht) eher Ausnahmen selbst in dieser Kohorte. Darf man daraus Verallgemeinerungen ziehen?
Westdeutsche Bildende Künstler, die ähnlich wie Krause und Rauch neurechte Parolen verbreiten, fallen mir nicht ein. Wohl aber Literaten wie Cora Stephan oder Botho Strauss. Und Musiker wie Xavier Naidoo. Strauss hat schon vor fast 30 Jahren mit seinem Essay Anschwellender Bocksgesang die Türen dafür geöffnet, dass manche deutsche Intellektuelle sich wieder stolz als Rechte bezeichnen. Und seit Thilo Sarrazins (auch kein Ossi) Pamphlet Deutschland schafft sich ab ist die Parole Das werd ich doch wohl sagen dürfen zum Ausdruck von rechter Autonomiebehauptung geworden.
Was ich von Rauchs Einstellungen halte, hab ich schon früher ausgedrückt. Und noch intensiver habe ich mich zu Krause geäußert. Es gibt Unterschiede zwischen beiden. Rauch ist viel intelligenter, vermeidet so klare Aussagen, wie sie Krause auf Facebook von sich gibt. Geistig sind sich die früheren Ateliernachbarn aber offenbar trotzdem verwandt. Aus diesen zwei Beispielen aber eine typisch ostdeutsche Mentalitätsfrage abzuleiten, kann ich nicht nachvollziehen. Und sollte es sich tatsächlich um einen Ost-West-Konflikt handeln, kann es kein neuer sein, wie im zweiten Untertitel behauptet.

Wolfgang Ullrich
Feindbild werden
Ein Bericht
Der neue Ost-West-Konflikt
Berlin: Wagenbach 2020
ISBN 978 3 8031 3701 2

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