In nicht zu ferner Zukunft werde ich hier einen langen Artikel über die anhaltende Debatte zum Antisemitismus veröffentlichen, für manche Kommentatoren eine Causa Augstein, für mich eher eine Causa Broder. Doch zunächst habe ich mir noch einmal die Liste des Simon Wiesenthal Centers für 2012 abgesehen. Seit 2010 werden diese Charts veröffentlicht, in Ergänzung zu den bisherigen Listen des SWC der meistgesuchten Nazi-Kriegsverbrecher. Diese sterben nun aus natürlichen Gründen aus, da muss Nachschub her. 2010 waren es zunächst noch die gröbsten antisemitischen Äußerungen, seit 2011 wurde die Liste auf antiisraelisch erweitert. Das ist offenbar kompatibel.
Bekanntlich ist Jakob Augstein in diesem Jahr auf Platz 9 gelandet, knapp vor Louis Farrakhan, Chef der Nation of Islam, ohne Zweifel eine antisemitische Organisation. Auch bei den Spitzenreitern, der iranischen Führungsclique und den ägyptischen Muslimbrüdern muss man nicht diskutieren. Und wenn auf Platz 4 Fans eines englischen Fußballclubs angeführt werden, die ihre (sportlichen) Gegner vergasen wollen, auch nicht. Da kann man eher noch etliche Fans vieler deutscher Mannschaften anführen, die genau das Gleiche brüllen, und von der offiziellen Politik in diesem Lande verharmlost werden.
Doch auf Platz 3 der Schwarzen Liste findet sich Carlos Latuff, ein brasilianischer Cartoonist. Über ihn wird in der gegenwärtigen Debatte hierzulande gar nicht diskutiert. Ob das in Brasilien passiert, weiß ich nicht.
Was hat Latuff verbrochen? Er hat im November 2012 eine Karikatur veröffentlicht, so wie es sein Job ist. Zu sehen ist Netanjahu, der eine kleine, grün gewandete Figur auswringt, wohl eine Palästinenserin. Bei diesem Vorgang fallen Wahlzettel für ihn in die Urne.
Kommentar des SWC: Während des letzten Konfliktes, „angezettelt von der Hamas gegen den jüdischen Staat“ (dem eine gezielte Tötung eines militärischen Führers durch die israelische Armee in fremdem Gebiet vorausging) hat Latuff den israelischen Premier für das verleumdet, was jeder Führer in der Welt tun würde, wenn Raketen auf unschuldige Zivilisten einschlagen.
Ich will jetzt nicht die bekannten Relationen der Opfer dieses Konflikts auf israelischer und palästinensicher Seite ausschlachten. Aber nochmals: Farruk landet auf Platz drei der Schwarzen Liste des SWC für antisemitische Ausfälle, weil er in Form einer Karikatur darstellt, dass Netanjahu (nicht etwa „die Juden“ oder „die Israelis“, wie Broder und seine Claquere Augstein immer wieder unterstellen) diesen Konflikt für wahlkampftaktische Zwecke nutzt. Aber ich möchte auch bezweifeln, dass jeder „Führer“ der Welt bei bewaffneten Provokationen gegen sein Land sofort mit geballter und übermächtiger Militärmacht zurückschlägt. Auge um Auge, Zahn um Zahn. Steht zwar so im Alten Testament, aber sollten wir heute noch der vorsätzlich verursachten Zahnlosigkeit und Blindheit zustimmen?
Das allein ist Platz 3 der antisemitischen / antiisraelischen Beleidigungen des Jahres 2012 wert! Da könnte sich ja eigentlich Jakob Augstein ganz beruhigt zurücklehnen. Ist aber nicht so. Wir sind doch nicht in Brasilien, sondern in der Bundesrepublik Deutschland.
Sorry für die Korrektur, aber es heißt »Auge für Auge«: http://de.wikipedia.org/wiki/Auge_für_Auge
Sonst landet man schnell wieder beim antijüdischen Ressentiment: http://www.hagalil.com/judentum/rabbiner/bollag.htm
Ich habe mich auch sehr darüber bewundert, dass es die Karikatur in die Liste geschafft hat. Und dass in der Rezeption derselben das einer Karikatur wesentliche vergessen wird: Dass es sich bei ihr um eine satirische Übertreibung handelt, um politischen Humor.