Letzte Linie

Erst steigt einer ein, plärrt: „Kann mir mal wer nen Hunderter klein machen? Für diesen Kackautomaten, hab kein Ticket.“ Paar Leute kramen in den Taschen, tun so. Dann aber steigt ein anderer ein, verkauft ihm so viel T-Aktien, bis nur noch das Kleine für den Fahrschein bleibt. „Bin heut Hans im Glück“ singt er zur Melodie von Starsprangled Banner. Doch dann kauft er für die soeben erwirtschaftete Knete einem Blinden zwei Exemplare einer Straßenzeitung ab, im selben Moment, als er kontrolliert wird. „Shit“ sagt er mit südalbanischem Akzent. Zufällig ist der Kontrolleur im Nebenberuf Anwalt und schlägt ihm vor, ihn bei der Klage gegen die Telekom zu vertreten. Schon wieder Glück gehabt.

Und dann dieses Mädchen. Alle, wirklich alle, starren ihr auf die Titten, sogar die Frau mit den zwei Melonen. Doch ich, wirklich nur ich, sehe auf ihre Augen. Denke: größer dürften sie wirklich nicht sein. Diese Augen.

Der Straßenbahnfahrer hat die Angewohnheit, der Kassiererin bei Penny an der Antonius-Brücke Grüße zu senden, indem er die Bahn durch heftige Lenkbewegungen schunkeln lässt. Leider übertreibt er heute. Die Bahn kollidiert mit dem Friedensgebetsdenkmalentwurf. Aus der aufgeschlitzten Außenhaut fallen 17 Päckchen Crystal Meth, dann kippt der Wagen in Schräglage. Traurig steigen die Passagiere aus und sehen, wie die Bahn heißt: Costa Cordalis.

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Links und rechts der Kö

Sie wissen es nicht, können es nicht wissen, die Käufer von Eistüten am Epizentrum der Könneritzstraße. Auch nicht die Konsumenten bei Konsum gleich gegenüber, im Flagshipstore der an Rabattmarkeneinklebehefte gemahnenden Genossenschaft. Auch nicht die auf die nächste Linie 1 oder 2 der LVB Wartenden an der Haltestelle. Dass sie nichts über Herrn Könneritz, den verflossenen sächsischen Finanzminister wissen, ist unerheblich. Sie wissen nicht, dass sie sich an einer heiß umkämpften Front befinden. Das Erkenntnis wird dadurch erschwert, dass sich die Frontlinie nicht etwa in der Mitte der schnurgeraden, mehr als einen Kilometer langen Straße befindet. Auch nicht zwischen nördlichem und südlichen Abschnitt, obwohl die leichte Erhebung daran erinnert, dass hier mal der Bahndamm eines Anschlussgleises für die Plagwitzer Industrie die Straße querte.

Ein Kilometer Frontlinie.

Ein Kilometer Frontlinie.

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Starkes Stück

Es ist Wahlkampf in Sachsen. Die Laternenmasten bevölkern sich mit Kandidatengesichtern und/oder simplen Parolen. Je platter, desto geeigneter (die Parolen meine ich). Manche setzen gar auf die Vergesslichkeit des Wahlvolkes. kuelow Weiterlesen

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Der Anti-Schwärmer

Byung-Chul Han kann gut schreiben. Und seine Bücher sind mit hundert Seiten im Kleinformat und in der häppchenweisen Untergliederung auch leicht zu konsumieren. Dabei ist er aber keinesfalls flach. Es macht Spaß zu lesen, wie er mit fundiertem Wissen sprachliche Konventionen auseinandernimmt. Gleich zu Beginn des Büchleins Im Schwarm unterscheidet er plausibel zwischen Respekt und Spektakel, die den gleichen Wortstamm haben. Rückschau versus Gegenwartssucht. Später erklärt er im Sinne seines Anliegens, dass digital vom lateinischen Finger herstammt, der zum Zählen diente. Abzählen versus Denken. Weiterlesen

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Weg von Mono

Wie Monokulturen in der Landwirtschaft den Boden aussaugen, so ist es auch auf dem Terrain der Künste. Hans-Werner Schmidt, Direktor des MdbK, schreibt das im Katalog zur aktuellen Ausstellung Herz, Reiz & Gefühl. Welche Monokultur er meint, wird nicht ganz klar. So wie es an der heutigen HGB vier Fachrichtungen gibt, so war auch zu DDR-Zeiten die Malerei als Shooting-Star begleitet von weiterhin starken Bereichen der Buchkunst und Fotografie. Eine Bemerkung Schmidts in der Pressekonferenz am Freitag kann zur Aufklärung beitragen. Die Malerei aus Leipzig werde heute – speziell festgemacht an einzelnen Namen – vom Stadtmarketing benutzt. Doch gerade diese Namen würden dann nicht bei Dokumenta, Venedig-Biennale oder der gegenwärtigen Manifesta in St. Petersburg auftauchen. Dafür aber andere Leipziger, die nicht so marketingträchtig wirken.

Das Erscheinen der Guten: Frederic Bußmann, Hans-Werner Schmidt, Ana Dimke und Ralf F. Hartmann.

Das Erscheinen der Guten: Frederic Bußmann, Hans-Werner Schmidt, Ana Dimke und Ralf F. Hartmann.

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So. So? Ja doch, so!

So eine Frechheit. Nur vier Songs auf der ersten CD des Doppelalbums, quasi die A-Seite. Noch frecher: Der erste Titel ist unendlich lang, fast eine halbe Stunde. Am frechsten: Er besteht aus gerade mal zwei Akkorden in Endlosschleife.

Bei Müller im Ramschkasten fand ich Neil Youngs Psychedelic Pill für wenig mehr als 5 Euro. 2012 ist als Datum der Pressung angegeben. Fast neu. Also mal reinhören. Hey now, hey now now, I´m drifting back. Hey now, hey now now, I´m drifting back. Hey now, hey now now, I´m drifting back. Neil Young wie in seiner Blütezeit vor vierzig Jahren. Keine Experimente! Obwohl er die ja auch gewagt hat. Hier aber alles so, als würden noch Hippies scharenweise durch das Land ziehn mit langen, ungewaschenen Mähnen, kiffend, rudelbumsend. Youngs Ningelstimme im Overdub, die Gitarre in diversen Verzerrungen ausprobiert, endlose Variationen der zwei Akkorde hoch und runter auf dem Griffbrett, der Schlagzeuger hat schon Krämpfe in den Armen, nochmal Hey now, hey now. Jetzt müsste eigentlich Schluss ein. When you hear my song now, you only get five percent. Wie meinen? I´m drifting back. Ach so. Klar.

So ein Selbstbewusstsein. Neil Young kann es sich leisten. Tausend andere Dinosauriere könnten es sich auch leisten, tun es aber nicht. Hecheln dem Zeitgeist hinterher, der so geistlos ist, nicht aber zeitlos. Drifting back. Auch eine Strategie. Nicht unbedingt, um das große Geld zu verdienen. Die meisten dieser Alten können aber sowieso von den Tantiemen leben, ohne bei Eröffnungen von Baumärkten oder Gebrauchtwagenhändlern zur Klampfe greifen zu müssen.

So langweilig. Da passiert nichts. Hin und her. G und C oder A und E, je nach Stimmlage am Lagerfeuer nachmachbar, würden die Mitfeuernden nicht spätestens nach fünf Minuten zu Wurfgegenständen greifen.

Nun ist wirklich Schluss. 27:29 zeigt der Player an. Da schwingt noch was nach, auch eine Rückkopplung sägt auf den Hörnerven, als gäbe es keine fortgeschrittene Studiotechnik. Muss ein. Tatsächlich jetzt: Aus! Aus! Aus!

So gut.

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Sturzgeburt

Nach dem schon nicht gerade umwerfenden Logo – die Rolle der Nullen betonend – hat das seinerseits begründungsseitig wacklige Stadtjubiläum, dessen Abfeiern für das kommende Jahr beschlossen wurde, nun einen Slogan: LIKEZIG. In erstaunlicher Offenheit gibt die dafür zuständige Marketing und Tourismus GmbH LTM zu, dass an der Worterfindung keine Werbeagentur monatelang gebrütet hat, sondern sie in einem Workshop von Studenten der Uni entstand. Zumindest preisgünstig also.

Dabei hat man bei den meisten Kampagnen des Stadtmarketings meist den Eindruck, dass sie vor allem zur Auftragsbeschaffung der Werbewirtschaft dienen. Wer sonst braucht diese albernen Sprüche? Was ist eigentlich gegenwärtig der offizielle Slogan von Leipzig jenseits des jubiläums? Immer noch Leipziger Freiheit? Wenn ja, was wollen uns die Erfinder damit sagen?

Dass also kein Geld für Likezig ausgegeben wurde, ist noch das Beste daran. Was bei Ausschreibungen mit fettem Budget rauskommt, kann man ja annähernd flächendendeckend studieren. In Chemnitz etwa hat Zebra, eine der größten Werbeagenturen Sachsens, den Wettbewerb gewonnen. Die Stadt bin ich nennt sich das Produkt. Darauf muss man erst einmal kommen. Möglicherweise haben die Zebras einen Betriebsausflug nach Berlin gemacht und sich da von Sei Berlin inspirieren lassen. Der angeblich identitätsstiftende Neue Kollektivismus ist ansteckend, spätestens seit BILD verkündete: Wir sind Papst!

Die bald 550.000 Leipziger sollen nun also zu Followern ihrer selbst werden. Sich mit sich anfreunden. Ein Selfie in XXXL. Klingt ach Onanie. Aber das ist wohl Wesensmerkmal all dieser krampfhaften Kampagnen. Wie nett wäre es, bei einer Reise irgendwo zu lesen: XYZ – die Stadt die keinen Slogan braucht!

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Flanieren in der Zeit

Es ist schon bemerkenswert, wenn eine große Buchhandelskette wie Lehmanns einen gut sichtbar positionierten Tisch mit Produkten kleiner unabhängiger Verlage einrichtet. Dort liegt unter anderem die Edition Poetikon aus dem Berliner Verlagshaus J. Frank – kleine Hefte in grauem Karton eingeschlagen. Einzelne Begriffe wie Geschlecht, Gruppendynamik oder Tradition stehen als Titel. Das Heft namens Geschichte hat der Leipziger Jan Kuhlbrodt geschrieben, als diplomierter Philosoph ist er für so ein Thema prädestiniert. Weiterlesen

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Schon bezahlt

Ein Roman? Hat doch niemand behauptet. „Geschichten“ steht als Gattungsbezeichnung auf dem Schmutztitel. Sind aber Geschichten nicht auch ausgedachtes Zeug? Nicht unbedingt, doch immerhin war Katja Petrowskaja mit ihrem Buch Vielleicht Esther in der Kategorie Belletristik auf der Shortlist zum Preis der Leipziger Buchmesse ominiert. Während Helmut Lethen mit seinem sehr subjektiven, von persönlichen Erinnerungen gesättigtem Buch bei den Sachbüchern gewann. Andererseits hat Katja Petrowskaja den Bachmann-Preis geholt, der eigentlich für Belletristik und deren eindrucksvolle Vortragsweise vergeben wird. Gut, Kathrin Passig hat ihn auch schon mal für Sachliteratur bekommen. Pseudo-Sach. Dagegen ist Vielleicht Esther ausgesprochen fundiert in der Recherche und Faktentreue. Weiterlesen

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Gedächtnisstörungen

Bei den ewigen Diskussionen um die neue Bebauung des Wihelm-Leuschner-Platzes, dem vorauseilend schon eine neuer Beiname angehängt wurde, durch Straßenbahnen und U-Bahnschächte hallend, las ich der Leipziger Internet-Zeitung in einem Kommentar: Das historische Straßennetz einer Stadt ist auch deren Langzeitgedächnis. Das habe ich schon mehrfach gehört. Klingt irgendwie vernünftig, wie eine durch Autoritätsbeweise untermauerte Volksweisheit, über die nicht mehr diskutiert werden muss. Durchdenkt man sich aber dieses nostalgische Geplapper, wird es absurd. Welches historische Straßennetz ist gemeint? Als hätte es mal einen fertigen Zustand der Stadt gegeben, der dann verwischt wurde. Bevorzugt unterstellt man diese Gedächtnisstörung der Überbauung bzw. Beräumung zu DDR-Zeiten, weshalb viele auch das Bowlingzentrum weg haben wollen. Nach dieser Logik muss natürlich auch die Ringbebauung am Roßplatz verschwinden. Allerdings auch die Schilleranlagen, auf dass man die Stadtmauer wieder errichte. Meister im Wegreißen und Überbauen waren nun gerade die Planer des 19. Jahrhunderts, die jetzt so gern verklärt werden. Da musste eben auch mal eine mittelalterliche Kirche weichen, um die Petersstraße zu erweitern. Und kein Verein, keine Bürgerinitiative wurde wütend.

Wie so ein angebliches Langzeitgedächtnis aussieht, kann man am Dresdner Neumarkt bewundern, Disney hätte seine Freude dran. Oder in Berlin, wo das Schloss wiederersteht. Fast so als könnten sich noch viele Berliner dran erinnern, nicht aber an den Palast der Republik, der dafür weichen musste. Ist ja nur Kurzzeitgedächtnis, kann weg.Aber auch die Behauptung, dass Grundrisse den Stadtcharakter ausmachen, ist fraglich. Manhattan hat heute im Wesentlichen noch das gleiche Straßennetz wie vor 200 Jahren. Dass man deswegen den Geist dieser Zeit noch spüren könne, ist ja wohl Quark.

Kalendersprüche sind für die Stadtplanung kaum tauglich.

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