Höchstkultur

Chemnitz macht sich einen bunten …. äh, Schornstein. Dieser ist mit 301,80 Metern immerhin das höchste Bauwerk Sachsens und nun auch das höchste Kunstwerk des Freistaates. Kein Geringerer als Daniel Buren hat die Esse eingefärbt. Zwar wird er nicht persönlich auf einer wackligern Leiter gestanden haben, den Pinsel in der Hand. Doch für das Wedeln mit dem RAL-Fächer wird er wohl auch ein paar Euro Aufwandsentschädigung erhalten haben. Und die Stadt hat einen Grund mehr, sich als Kunststadt zu feiern, auch wenn man die Zahl der nennenswerten Künstler unter 50 an einer Hand abzählen kann.

Was aber will uns der Künstler nun sagen? Ich bin mit dem Versuch einer Hermeneutik gescheitert. Interpretierbar ist noch das Himmelblau, Farbe des Chemnitzer Fußballclubs. Je nach Betrachtungsweise ist es im zweiten oder vierten Feld angesiedelt. Angesichts des gegenwärtigen Drittligastatus des Clubs kann man diese Platzierung opti- oder pessimistisch deuten. Klar ist auch das warme Kadmiumgelb ganz oben. Das steht für die strahlende Zukunft der Stadt. Aber Orange? Weder hat Chemnitz Beziehungen zum holländischen Königshaus, noch zur südfranzösischen Stadt Orange oder dem kalifornischen Orange County. Und Lila? Soll das die Neigung der Chemnitzer zum Extravaganten, Gewagten, Unkonventionellen symbolisieren? Ich bin ratlos. Doch künftige Generationen von Studenten der Kunstgeschichte brauchen ja auch noch Stoff für Magisterarbeiten. Da wird dann Klarheit geschaffen.

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Wozu eine Poetik?

Nicht nur in der Poetry Slam-Szene erregt derzeit ein Artikel von Boris Preckwitz in der Süddeutschen Zeitung die Gemüter. Wenn etwa der Sächsische Literaturrat auf Facebook postet: „bemerkenswerter Beitrag“ klingt das so wie Wir wussten doch schon immer, dass sowas nichts mit Literatur zu tun hat! Nun kann man dem Autor keinesfalls vorwerfen, keine Ahnung von der Sache zu haben. Preckwitz gehörte zu den ersten Rampensäuen im deutschsprachigen Raum. Weiterlesen

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Panisch angehauchtes Zwischenfazit

Angenommen, mich rammt morgen eine tieffliegende Cessna, oder erstmals überspringt ein Computervirus die Artenbarriere und befällt mich. Dann wäre es eigentlich schade, wenn von meinem seit drei Jahren verfolgten Projekt nicht mehr als eine Sammlung von Exzerpten und Notizen bleibt. Nach verschiedenen anderen Arbeitstiteln lautet die Überschrift unterdessen: „Auf der Suche nach dem Begriff der Moderne. Ein Bildungsroman.“ Angesichts erwähnter Risiken sollte ich mal ein knappes Fazit ziehen. Weiterlesen

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lemmingiade

Kuhlio treibt ungeschützten Verkehr

vor sich her, die Karli entlang,

adoptiert 1en Kleinwagen mit 1er 1-Oiro-Dublette.

Qualität ganz oben, Preis siehe unten.

Doch auch 1 abgründig Lemming kommt manchmal all1

an die Kasse von Aldi Ostwest, stellt brav sich an, an, an, an.

Träumt doch Conni, die Fee der bar codierten Wochenaction –

geboren im Zeichen des fünfkantigen Inbusschlüssel mit

passendem Gewinde am Steißbein –

von einem Volkshöchstschulkurs in Komposition

beglückender Scannergeräusche ad libido. In

der kuhlen Truhe (sanft) aber gibts immer hin

und her Eis zu eckligen Bällen formbar.

Was fürne Schlacht! Fatsch! Rückschlag!

Connis Kreuz wird von 6/8 Hundertschaft Poliz gerubbelt,

abgeklatscht von 6,5 Ab- und zugeordneten.

Kuhlios Kleinwagen spuckt wieder aus 1 Drachme.

Son Glück. Am Fotomaten nebenher großer Andrang.

 

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Bekackt

Ein Mann in Anzug und Schlips müht sich mit seinem alten Vater. Auf dem etwa acht Meter langen Weg vom Sofa zum Bett kackt dieser sich drei Mal in die Windeln. Verzweiflung beiderseits. Doch Themen des Stückes „Über das Konzept des Angesichts von Gottes Sohn“ des Italieners Romeo Castellucci sind weder demografische Verschiebung noch Pfegenotstand. Angesichts seiner Plagen beginnt vielmehr der Sohn an Gott zu zweifeln.

Dem zwar perfekt gespielten, doch naturalistischen, ohne künstlerische Verfremdung dargestellten häuslichen Geschehen folgt eine Orgie von Effekten. Zuerst bewerfen Kinder das übergroße Jesusbild mit Spielzeuggranaten, dann wird auch dieses Bild mit Kacke überzogen, schließlich zerfetzt, die Schrift „You are (not) my shepherd“ erscheint leuchtend.

Radikal soll es sein, das Eröffnungsstück der diesjährigen euro-szene Leipzig. Radikal mag der Mut der Verantwortlichen der Peterskirche sein, solch eine Aussage gerade in einem Kirchenraum zuzulassen. Das Spektakel ist vor allem eines: flach. Dass man seinen Glauben verlieren kann, sofern man einen überhaupt hat, wenn der Alltag all zu hart wird, ist banal. Die dramatische Verarbeitung Castelluccs fügt der simplen Aussage nichts hinzu, was nicht jeder weiß. Mit solchen Plattitüden wird es sicherlich schwierig, die für 2013 existenziell wichtige Sponsorensuche des Festivals zu bewältigen.

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Sag mir, wo die Filme sind

Vier Vorstellungen der Dokfilmwoche habe ich geschafft: ein Programm internationaler Animationsfilme, die traurige Dokumentation „Das Venedig Prinzip“, eine Zusammenstellung von Crossmedia-Projekten sowie den Sachsen-Fokus mit dem Film über die fantastische Band AG Geige. Die Vorstellungen waren entweder ausverkauft oder ziemlich voll, und das Festival meldet ja auch wieder mal einen neuen Zuschauerrekord. Da stellt sich dann die Frage, was passiert eigentlich mit all den Filmen hinterher? Gut, manche der Crossmedia-Sachen sind im Netz zu finden, so der Bericht über das seltsame Moskauer Kunstsammlerpaar Bielutin. Und auch den über Streetart-Künstler in verschiedenen Städten der Welt. Doch dass man die sächsischen Filme mal bei MDR wird sehen können, ist völlig ausgeschlossen, auch wenn AG Geige einst „Volkskunstkollektiv der ausgezeichneten Qualität“ war, insofern da ins Schema passen müsste. Und selbst auf Arte, ZDF Info oder Phoenix wird man kaum einen der guten Filme finden, dafür die hundertste Rückschau über irgendwelche Nazigrößen. Vor allem frag ich mich, was mit den vielen wunderbaren Animationen passiert, die nicht für Kinder gemacht sind. Wohin verschwinden die auf Nimmerwiedersehn?

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Geht doch

Viel Zeit habe ich mir in diesem Jahr mit der neuen Tippgemeinschaft genommen. Ein Rezensionsexemplar habe ich von den DLL-Studenten wie schon im Vorjahr nicht mehr bekommen. Meine Besprechung vor zwei Jahren war wohl nicht ganz im Sinne ihrer Erwartungen ausgefallen, die Bestechung freundliche Zueignung also fehlgeschlagen.

Die erste Auffälligkeit in diesem Jahr ist, Weiterlesen

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Kaum Endzeit, aber Stimmung

Er kommt aus dem Nichts, schreibt J.J. Sullivan über den Rocksänger Axl Rose. Damit meint er weniger die soziale Herkunft als die geografische, eine Kleinstadt in Central Indiana. Und ein bisschen bezieht er diese Kennzeichnung auch auf sich selbst, wurde Sullivan doch 1974 in Louisville geboren. Zwar ist das mit rund einer Viertelmillionen Einwohnern die größte Stadt in Kentucky. Doch wo liegt schon Kentucky? Irgendwo zwischen den versnobten Neuengland-Staaten und dem auf seine Ödnis auch noch stolzen Mittleren Westen. Nirgendwo. Somit ist der Untertitel „Vom Ende Amerikas“ auch weniger weltpolitisch als örtlich zu verstehen. Eines der Enden Amerikas liegt mittendrin wie ein herausgefallenes Puzzlestück. Und auch als renommierten Journalisten zieht es Sullivan nicht in die quirligen Metropolen, er bleibt dem provinziellen Milieu treu Was aber nicht heißt, dass er da nicht unterwegs ist.

Zum Beispiel zum größten Festival für Christenrock, einem wahren „Godstock“. Christenrock muss deutlich von Rock mit christlichen Inhalten unterschieden werden, weil er „als musikalisches Genre immun ist gegen Qualität.“ Dennoch und trotz des weitgehenden Verzichts auf bewusstseinserweiternde Chemikalien während der Tage des Festivals lässt sich der Autor sich merklich anstecken von Friede, Freude, Gottvertrauen.

Auch mehrere seiner anderen Reisen haben mit den „niederschmetternden geistigen Tiefen der Popkulturkritik“ zu tun, wie er mit viel Selbstironie anmerkt. So besucht er eben das Reunion-Konzert von Guns´n Roses. Und für ein langes Gespräch mit dem letzten lebenden Musiker der Wailers. Bob Marleys Band, fliegt er sogar nach Kingston. Jamaika. Andere Exkursionen in Sachen Musikgeschichte sind eher virtueller Natur. Für einen Text über Michael Jackson, bei dem dessen sexuelle Orientierung eine wichtige Rolle spielt, sichtete Sullivan diverses Archivmaterial. Viel weiter in die Historie zurück reichen Recherchen zu ganz frühen Plattenaufnahmen vom urtümlichen Country Blues. Dafür telefoniert er eine Nacht lang mit einem Veteran dieser Musikrichtung, der manche jener Sängerinnen und Sänger selbst kannte. Interessant ist der Anlass für diese Nachforschungen. Als Jungredakteur hatte John Jeremiah Sullivan die Aufgabe, Fakten und Zitate aus Songtexten im Manuskript des nicht gerade unbekannten Autors Greil Marcus auf Richtigkeit zu prüfen – ein Nachruf auf langsam aussterbende Tugenden der Publizistik.

Die in „Pulp Head“ versammelten Texte, zwischen 1999 und 2011 entstanden, wurden für Journale wie Gentelman´s Quarterly, hierzulande besser unter dem Kürzel GQ bekannt, Harper´s Magazine oder Paris Review geschrieben. Bei dem Genre Essay im Zusammenhang mit US-amerikanischen Autoren denkt man heute zuerst an Mark Greif und die anderen Autoren rund um n+1. Doch nicht nur wegen der bewussten Ferne Sullivans zu den hippen Großstädten haben seine Texte wenig mit diesen intellektuell verfeinerten Gedankenspielen zu tun. Häufig scheint die Bezeichnung Reportage näher liegend, und Bezugspersonen wie Studs Terkel oder Norman Mailer schimmern durch.

Dass ganz Amerika in dieses Buch gepackt sei, ist eine unnötige Marketingfloskel des Verlages. Sullivan hat bestimmte Themen. Zuerst die Spielarten populärer Musik, dann weitere Facetten der Popkultur, schließlich aber auch naturwissenschaftliche Forschungen. Bei all dem vorhandenen oder umfänglich recherchierten Detailwissen erreicht er durch konsequente Ich-Perspektive, nette Anekdoten und viel atmosphärische Nebensächlichkeiten einen literarischen Duktus, der auch Leser mitreißt, die vom jeweiligen Gegenstand keinerlei Ahnung haben. Am intensivsten ist dieses Anderhandnehmen bei ganz persönlichen Erfahrungen wie einem ungewollten Ausflug nach Disney World, der Einquartierung einer Seifenoper-Produktion im eigenen Wohnhaus oder dem seltsamen Praktikum beim uralten Südstaaten-Schriftsteller Andrew Lytle.

„Man muss nicht gleich den ganzen Tag Nelkenzigaretten rauchen oder in Hafenspelunken ungeschützten Sex mit Transen haben, aber genau so wenig muss man diesen Dingen abschwören, wenn man sich mit ihnen besonders lebendig fühlt.“ Derart ermutigend führt J.J. Sullivan in einen mit der für ihn üblichen Gewissenhaftigkeit erstellten Bericht über den vermutlich bevorstehenden Aufstand mancher Tierarten gegen die menschliche Dominanz ein. Manchmal kommt aber alles ganz anders als erwartet. Die englische Genrebezeichnung Non-fiction stellt für den Autor keine feste Grenze dar.

(eine gekürzte Fassung des Artikels ist am 25. Oktober in der LVZ erschienen)

John Jeremiah Sullivan

Pulp Head. Vom Ende Amerikas

Suhrkamp Berlin 2012

416 Seiten

20,00 €

Lesung mit John Jeremiah Sullivan in der Skala, Gottschedstr. 16

am 2. November, 20 Uhr

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Doppelmesse

Designers Open und Grassimesse an diesem Wochenende – nach einer Pause im Vorjahr habe ich mir beides wieder angesehen. Und viel neues gefunden. Interessant bei DO war unter anderem der Sonderteil zu „smart technology“. Zwar hat es nicht unmittelbar mit Design zu tun, aus Brombeeren Energie zu gewinnen oder Verpackungsmaterial aus Algen zu gewinnen, doch werden damit innovative Gestaltungen möglich gemacht. Die Sonderschau „Ü 60“ bei der Grassimesse müsste mich eigentlich interessieren, auch wenn noch paar Jahre Spielraum sind. Und es waren auch einige interessante oder zumindest witzige Sachen dabei, die sich Studenten für ältere Leute ausgedacht haben von der Sitzbank mit fußbedienbarem Glockenspiel bis zur Fensterauflage zum bequemen Rausgucken. Die Spitze war aber eine Wohntonne mit Bad, aus Müllcontainern gefertigt. Für Leute also, die kein Fenster mehr zum Rausgucken haben. Und unmittelbar daneben, kaum zwei Meter entfernt Schmuck aus Gold, Silber und anderen edlen Materialien. Eigentlich liegt darin ja auch das Profil der Grassimesse – teure Dinge, in anspruchsvoler Handwerksarbeit gefertigt. Doch die DO wird immer mehr als Konkorrenz wahrgenommen. Da muss irgendwie, sei es auch krampfhaft, gegengesteuert werden. Für dieses Mal ist der Drang zum hippen Zeitgeist ziemlich schief gegangen. Ist es wirklich nötig, solch ein Spreizung hinzubekommen? Es gab etwa 300 Bewerber für die Messe, kaum 100 konnten angenommen werden. Warum nicht auf das konzentrieren, was man kann?

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Nocturno

Keine Kirchenglocke schlägt an. Keine Straßenbahn biegt um die Ecke, Autos gibt es nicht. Kein Betrunkener grölt im Mitternachtschor. Ohne ein Ticken zeigt der funkgesteuerte Wecker 03:48 an. Die Katze hat das Schnachen wie das Kratzen eingestellt. Die Frau schläft ohne Geräusch.

Da setzt sich John Cage auf meine Bettkante, setzt sich die Bommelmütze ab und sagt: „Hörst du?“.

„Stimmt“, sage ich.

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