Präsidentendämmerung

Etwas erstaunt war ich schon, als vorige Woche die Fernsehbilder wütende Menschen auf den Straßen tunesischer Städte zeigten. Vor kaum drei Monaten waren wir dort, zum ersten Mal Urlaub in einem arabischen Land. Da erschien alles ruhig, ziemlich gelassen. Klar, an jeder Straßenecke ein Standardbild des ewigen Präsidenten, die Hand aufs Herz gelegt. Und sehr viel Polizei, die auch ständig irgendwen kontrollierte. Ein Taxifahrer, der wie die meisten etwas Deutsch sprach, sagte auf unsere Frage nach dieser Präsenz der Staatsmacht, dass dies gut sei. Das verhindere Terrorismus. Unbekannten Touristen würde ich auch nichts anderes erzählen. Und nun ging es ganz schnell, dass Ben Ali sich abgesetzt hat. Ich hoffe, in das Machtvakuum stoßen nicht islamistische Hardliner. Dann hätte sich der Aufruhr nicht gelohnt.

Ben Ali auf der Avenue in Tunis, die nach seinem Vorgänger benannt ist, den er mit einem Putsch stürzte.

Ben Ali auf der Avenue in Tunis, die nach seinem Vorgänger benannt ist, den er mit einem Putsch stürzte.

Veröffentlicht unter politik | 4 Kommentare

Preiswert

Selten lasse ich mich von Preisvergaben bei der Auswahl meiner Lektüre beeinflussen. Nun habe ich aber doch ein Buch mit dem Aufkleber Georg Büchner Preis 2010 gekauft und gelesen. Es ist nicht das frischeste von Reinhard Jirgl, sondern der schon 2005 erschienene Roman Abtrünnig.

Erste Auffälligkeit ist die seltsame Orthografie. Wenn man da in WORD nicht die automatische Rechtschreibediktatur ausgeknipst hat, dreht der Schreiber am Rad. Es scheint nicht gerade das Lesen von 540 dichtbedruckten Seiten zu erleichtern, dass in der Manier Arno Schmidts die Sprache geschreddert wird. Und nötig wäre es auch nicht, wird doch auch ohne diese vordergründigen Effekte deutlich, dass Jirgl eine hohe Sprachbeherrschung hat. Doch man gewöhnt sich schnell an die seltsamen Schreibweisen. Häufig ist es nur Spielerei, doch Schöpfungen wie Tonphall, Legislateniker oder Hohn-oh-rar legen verborgene Bedeutungsschichten frei. Und die Ausrufe- oder Fragezeichen vor den Wörtern haben sogar eine sinnvolle dramaturgische Funktion.

Zwei Männer lassen sich von der Gravitationskraft Berlins einfangen. Eigentlich sind es aber Frauen, deren Weg in die Hauptstadt sie hinterherstolpern. Sehr spät im Buch trifft man auf die im Startkapitel als zweiten Haupthelden eingeführte Figur. Und nicht für lange. Im Vordergrund steht vielmehr ein aus dem Wendland stammender verkrachter Journalist, nebenbei halbtrockener Alkoholiker. Doch mit der Psychotherapeutin, die er beim Entzug kennengelernt hat, wird er auf Dauer in Berlin trotz oder wegen ihrer freizügigen Lebenseinstellung nicht auf Dauer froh. Sogar seine strenge Ex-Frau taucht in Träumen und im realen Leben wieder auf.

Eigentlich könnte der Stoff auf der Hälfte des Platzes ausgebreitet werden. Doch Jirgl beherrscht das Drumherumreden so gut, dass keine Langeweile aufkommt. Politisierende oder vulgärphilosophische Einschübe reichern den Inhalt an, wären aber verzichtbar. Man kann den Text wegen seiner spezifischen Struktur auch wie ein langes, sehr langes Prosagedicht lesen.

Letztlich funktioniert die dramatische Zuspitzung hervorragend. Nach all den Pirouetten und Abschweifungen explodieren die Konflikte, die lange Zeit auf kleiner Flamme schwelten. Gute Literatur also. Preiswert.

Reinhard Jirgl

Abtrünnig. Roman aus der nervösen Zeit

München: dtv 2008

Veröffentlicht unter kritik, literatur | 1 Kommentar

Vasilopita

In Griechenland ist es am Neujahrstag Brauch, einen Kuchen für den Hl. Basilius zu backen – Vasilopita. Vor dem gemeinsamen Verzehr wird der Kuchen aufgeteilt. Jedes Familienmitglied, auch bei Abwesenheit, bekommt ein Stück zugewiesen, außerdem Jesus Christus sowie das Wohnhaus. In wessen Stück sich die in den Teig gerührte kleine Münze befindet, der wird das ganze Jahr lang Glück haben. Meine griechische Verwandschaft aus Dresden hat mich per SMS informiert, dass diesmal der Cent in meinem Stück Kuchen war. Das passt mir gut ins Konzept. Ich frage mich nur, wie das aussieht, wenn Jesus mal Glück hat. Fällt dann Ostern aus?

Veröffentlicht unter alltag | 1 Kommentar

Lob des Blitzeises

Blitzeis macht den gebräunten Schnee von gestern

nicht ansehnlicher, veredelt nur mit Firniss

für eine eilige Vernissage,

fügt Ecos Geschichte der Hässlichkeit

oberflächlich neue Aspekte hinzu.

Böllerbatterien mit Burnout-Syndrom schreien nicht mehr: Guten Rutsch!

Gammeln nur noch rinnsteinwärts.

Bus- und Bahnpiloten schreddern Fahrpläne

in fröhlicher Anarchie.

Wartekollektive feiern unerwartet Höhepunkte, kommen sie doch noch.

An jeder Kreuzung ein geknautschtes Konjunkturpaket,

die Kurse von Daimlervolkstoyotafiat steigen.

Speditionen spendieren Aussatz,

Geschäfte kriegen heute nichts Unverkäufliches.

Postboten liefern keine Mahnbriefe aus.

Bringdienste bringen´s heut nicht.

Gebrochene Hände produzieren keine überflüssigen Badeanzüge.

Gebrochene Füße latschen nicht in dröge Büros.

Gebrochene Schädel verzapfen keine Sinnloslyrik.

Und gebrochene Herzen. Sowieso.

Wenn schon Krieg – zeitweilig – nicht salonfähig ist,

dann wenigstens Blitzeis!

Spart man sich auch die Tribunale danach.

Veröffentlicht unter ergüsse | 1 Kommentar

Über das Anpieseln

In der Leipziger Internetzeitung unterhält sich Volly Tanner heute mit dem Multitalent Philipp „Bohm“ Baumgarten, der gerade Fotografien im Helheim zeigt. Im Interview fragt er:

V.T.: Was ist Kunst für Dich? Wer sich in die Öffentlichkeit begibt, wird ja auch gern und immer öfter angepieselt. Was sagst Du zu den Schlaumeiern?
P.B.: Kunst ist eine Frage der Rezeption, was soll man da schon definieren. Hätten wir doch über Musik gesprochen, da fällt mir immer der Spruch von Ian MacKaye ein: “if I could describe it in words then I wouldn’t have to play it”. Ich denke, dass man den Satz wunderbar auf die Kunst übertragen kann.

Lieber Volly, verdienst du nicht auch manchmal dein Geld als so ein „Schlaumeier“? Und ganz so zimperlich im Äußern von Meinungen bist du doch selbst nicht immer.

Die Antwort Bohms auf die Frage ist eigentlich zutreffend: Kunst muss man eigentlich nicht erklären. Wird aber über eine Ausstellung, ein Konzert, eine Aufführung gar nicht gesprochen, sind die Künstler gleichermaßen sauer. Das ist das Zweitschlimmste. Abwertend über das Ereignis schreiben, also anpieseln, ist das Drittschlimmste.

Andererseits beschweren sich nicht nur notorische Kulturkonsumenten, sondern auch Künstler selbst (sofern es nicht um die eigenen Hervorbringungen geht), dass das Feuilleton kein Niveau mehr habe, echte Kritik finde kaum noch statt. Da ist was dran, doch ganz ohne Anpieseln kann man eben nichts nass machen.

Und das Erstschlimmste? Das ist für einen Künstler zweifellos, zu behaupten, er sei Plagiator.

Veröffentlicht unter kritik | 3 Kommentare

Kleingedrucktes

Im Kleingedruckten findet man das Wichtige. Wie man als Faun gefiederten Tierchen die Flötentöne beibringt. Wie die statistisch korrekte Verteilung von Kirschen im Paradies stattfindet. Wie man als kleiner Wurm Würde bewahrt, obwohl man gerade seiner nahrhaften Apfelheimat entrissen wurde. Wie man seinen Vater erkennt.

Im Kleingedruckten ist Hinterhältiges versteckt. Dass der Bus heute nicht kommt, hat der wartende Sechser überlesen. Dass auch Selbstporträts strengen biometrischen Vorgaben folgen müssen, wurde gerade erst in der neuesten Novellierung ergänzt. Dass einem etwas blüht, wenn die Nachbarn Stacheln ausfahren, bedarf des Mutes zum Anderssein.

Das Kleingedruckte ist lesbar, doch nicht ohne Weiteres. Einen Vogel sollte man schon haben. Oder fünfzehn. Oder ein Kerze auf dem Kopf. Oder Mondlicht im Hinterhaus. Oder frische Flaschen im heutigen Posteingang.

Kleingedrucktes ist keine Kleinkunst, weil Kunst schon immer jede Maßstäblichkeit als kleinkariert belächelt hat. Kleingedrucktes macht auch keinen Mist, denn Hunde sind auch nur Gänse wie du und ich. Wer Druck macht, kann zuweilen auch ein Koch sein. Das zeugt von Größe.

Dieser Text wurde maschinell erstellt und ist ohne Unterschrift gültig.

Text für einen Flyer des Freiberger Künstlers Holger Koch.

Farblithografie von Holger Koch, Freiberg

Veröffentlicht unter kunst, sachsen | Hinterlasse einen Kommentar

Gegendert

Seit genau zehn Jahren dürfen auch Frauen bei der Bundeswehr dienen. Ein toller Erfolg der feministischen Bewegung. Seitdem kann auch das Tucholsky-Zitat „Soldaten sind Mörder“ mit zwei großen Binnen-I geschrieben werden.

Veröffentlicht unter politik, sprache | 2 Kommentare

Zehn Vorhaben für 2011

1. Endlich auf WordPress 3 aktualisieren.
2. Ukulele lernen.
3. Beim Tipptraining von der gegenwärtigen Übung 5 bis zur 12 kommen (von 30).
4. 50 Jahre alt werden.
5. Bei der 24-Stunden-Ausstellung mitmachen.
6. Mehr als drei mal twittern.
7. Mindestens zwei Bücher veröffentlichen.
8. Einen herausragenden Roman lesen (wenn ich bis November keinen gefunden habe, schnell selbst schreiben).
9. Zu keiner Wahl gehen (ist sowieso keine in Sachsen).
10. Fünf Kilogramm abnehmen.

Veröffentlicht unter alltag | Hinterlasse einen Kommentar

Ich booke jetzt face

Um nicht vor dem Zeitgeist zu erschrecken, habe ich nun endlich auch einen Account bei Facebook. Zwar kann ich mich da in der internen Suchmaschine noch nicht wiederfinden, aber über – beispielsweise – Udo Tifferts Freundesliste kann man mich finden, an 199. Stelle. Und auch meine Tochter gehört nun zu meinen vielen Freundinnen. Ich hoffe, das ist nicht missverständlich.

Um als Amateur mit dem Medium klar zu kommen, habe ich mir ein gar nicht so billiges Buch gekauft. Nun muss ich feststellen, dass es mir nur bedingt nützt, weil es mit der nagelneuen Benutzeroberfläche von Facebook etliche Änderungen auch in der Funktionalität gibt. Also: zur falschen Zeit eingestiegen.

Veröffentlicht unter netz | Hinterlasse einen Kommentar

Offener Ausgang

„Offene Zweierbeziehung“ am TdjW Leipzig.

Es ist das Thema Nummer Eins der Literatur, des Theaters, des Films – das scheinbar so schwer umsetzbare stabile und dabei auch noch harmonische Zusammenleben eines Paares, das wegen des Dauerkonflikts der natürlichen (und damit sexuellen) und der intellektuellen Seite des Menschen permanent zu scheitern droht. Spätestens seit den wilden Sechzigern wird als eine Alternative zur Alternative Unterwerfung vs. Trennung die „offene Zweierbeziehung“ diskutiert und ausprobiert. Nur ist sie dann eben keine Zweierbeziehung mehr, wenn man die Mathematik ein bisschen ernst nimmt.

Gar nicht sonderlich ernst nehmen Nobelpreisträger Dario Fo und seine Frau Franca Rame das Thema. Die unzähligen Selbstmordversuche in dem kaum länger als eine Stunde dauernden Stück sind immer ziemlich lächerlich, die Dialoge nicht unbedingt von reflektierendem Tiefgang gezeichnet. Auch wenn das Autoren-Duo ansonsten für politische Aussagen bekannt ist, fehlen diese in „Offene Zweierbeziehung“ weitgehend. Zwar wird die Frau ganz nach dem tradierten Rollenverständnis als Opfer des wollüstigen Gatten dargestellt, aber keinerlei Feminismus der verbissenen Gangart zelebriert. Zeigefinger auf die bürgerliche Gesellschaft als eigentliche Ursache der Zerrüttung sind ebenso wenig zu erkennen. Statt dessen werden so ziemlich alle Klischees durchgenommen, die in solch einer Konstellation stecken, mit Ausnahme der Option, dass mindestens einer der Partner homoerotische Neigungen entdeckt.

Jürgen Zilinski inszeniert die Komödie am Theater der jungen Welt locker-leicht, ohne die Versuchung, etwas hineinzupacken, was gar nicht im Text steht. Einige vorsichtige Modernisierungen gibt es allerdings. So konnte der „Held“ 1983, als das Stück erstmals auf Deutsch erschien, natürlich noch nicht beiläufig eine SMS an die Geliebte eintippen, während er der Gattin erklärt, welche Achtung er ihr entgegenbringe. Das gekonnte Spiel von Sonia Abril Romero und Roland Klein trägt entscheidend dazu bei, dass aus der Farce keine Klamotte wird.

Am Ende wird klar, was eigentlich auch vorher schon fast jedem klar war. Die große Offenheit, die in der Gesellschaft, der Software, der Informationsverbreitung gerade so eindrucksvoll im Kommen ist, erscheint für die Liebe zwischen zwei Menschen nach wie vor ungeeignet. Insofern kann man die Vorlage von Fo und Rame auch als eine Abrechnung mancher eigener Illusionen der 68er-Generation lesen.

Veröffentlicht unter kritik, leipzig, theater | Hinterlasse einen Kommentar