Bodenhaftung

Das Fremdwörterbuch verrät es: autochthon heißt alteingesessen, eingeboren, bodenständig. Auf wen man das Attrbut anwenden kann und wo die Grenzen sind, steht leider nicht dabei. Trotzdem wird es in den letzten Tagen häufig und zumeist ganz unbefangen benutzt, auch von Kritikern des mutigen Sarazenen (war das nicht ein gar nicht so bodenständiger arabischer Reiterstamm?). So beispielsweise in dem langen Interview der Zeit von voriger Woche mit dem Hobby-(Eu)Genetiker. Ich vermute, dass ich nicht autochthon bin, mein Vater ist aus Schlesien zugewandert, sein Großvater soll wiederum ein nicht namentlich zu fassender österreichischer Adliger gewesen sein. Kuddelmuddel statt Reinheit.

Sarrazin ist sich jedenfalls sicher, dass das seit 100 Jahren als monolithischer Block in der Mitte Europas ruhende deutsche Volk nun wegen der Migranten zerbröselt. Das macht doch Hoffnung.

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Fernes Leuchten

Der erste Roman von Leif Randt nennt sich Leuchtspielhaus. Da wird offensichtlich mit einer veralteten Bezeichnung für das Kino gespielt. Doch die so benannte Örtlichkeit im Filmskript von Helen, einer in London lebenden Künstlerin, hat nichts damit zu tun. Vielmehr haben die Protagonisten dieses Drehbuchs leuchtende Auren, deren Farbe und Form je nach Gemütszustand wechselt.

Der Ich-Erzähler des Romans kommt so wie der Autor aus Maintal, baut sich aber in der englischen Metropole mit Helen, Ray und anderen eine künstlich erscheinende Welt auf. Ihr Salon dient nur nebenbei zum Frisieren, ist ansonsten eher Partyzone. Alle „Members“ dieses inoffiziellen Clubs huldigen einer mysteriösen Bea, die in der Stadt ihre an Steetart erinnernden farbigen Zeichen hinterlässt, manchmal Sentenzen wie „Never leave highschool“, manchmal nur Worte oder auch goldfarbene Strümpfe. Diese Schweizerin ist als Person nicht zu fassen, gilt dennoch als wichtigste junge Künstlerin Europas. Die Suche nach ihr wird für den Erzähler zu einer Sinnsuche. Über Geld braucht er sich wie die meisten anderen Akteure keine Gedanken zu machen, es ist einfach da. Also lebt er Kunst. London ist dafür natürlich ein besserer Platz als seine hessische Heimat, wo die früheren Mitstreiter Anvar und McFly zurückgeblieben sind. Bei aller Hipness haben die Akteure Retro-Attitüden – kein Internet, keine Mails, kaum Drogen außer Alkohol.

Er findet schließlich eine Bea, seine Bea. Doch danach muss es weitergehen. In Warschau wird nun das Leuchtspielhaus tatsächlich zu einem Kino, in welchem sich das Partyvolk über McFlys experimetelle Filme amüsiert.

Leif Randt schildert eine kühle, aber schillernde Welt, die konstruiert erscheinen mag, aber für manche Kreise heutiger Jugendlicher vermutlich Realität ist. Die nüchterne Sprache, stark durchsetzt mit englischen Floskeln, unterstützt den Schein der Konstruktion. Die noch viel surrealere Ebene von Helens Filmscript hingegen hilft dabei, das sich Wichtigfühlen dieser Kids fast schon als Normalität anzusehen. Auch wenn das Stolpern gelangweilter, reicher Snobs in Leuchtspielhaus bei weitem nicht so ziellos ist wie in Krachts Faserland, bleibt doch ein leises Unbehagen an der Leere zurück.

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Ein Reinfall

Gestern wollten wir erstmals das Leipziger Wasserfest besuchen, speziell das German Wings-Fliegen im Lindenauer Hafen. Dass wir wegen Parkplatzsuche etwas spät kamen, war nicht weiter schlimm, es dudelte sowieso noch eine grottenschlechte Dixieland-Band. Wegen zu vieler Leute und plumper Animationsversuche in schmerzender Lautstärke wechselten wir aufs andere Ufer. Angefangen hatte das Springen immer noch nicht. Als es dann losging, riss der erste Pilot das Plakat des Sponsors ab. Die Reparatur dauerte, dauerte, dauerte … Dann schaffte es ein Minimalist ziemlich unbeschadet, ins Wasser zu kommen. Der dritte Flieger, eine viertel Stunde später, scheiterte schon auf der Rampe wegen unangemessener Dimensionen. Pause … Wieder einer, wieder das Plakat runtergerissen. Also noch mal eine halbe Stunde Dauereinsatz für den Moderator, der jeden Satz mit einem „So!“ anfing, im Wechsel mit besagter Band. Das wars, wir suchten uns eine Eisbar, weit weg vom Lindenauer hafen. Nie wieder Wasserfest! Dabei könnte es so einfach sein, wie der Sponsor meint.

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Neues von Osten

Osmar Osten, mein zweitliebster Chemnitzer Künstler, hat es geschafft, in den dortigen Kunstsammlungen eine Personalausstellung zu bekommen. Das schaffen nicht viele der noch lebenden Ortsansässigen, Frau Mössinger hat da strenge Auswahlkriterien. Dass Osmar diese Auszeichnung bekommt, freut mich sehr.

Er hat einen starken Hang zum Seriellen. Kunsthistoriker werden es später mal einfach haben, seine Perioden einzuteilen: Fische, Schneemänner, Blumenvasen, kackende Vögel – jeweils über mehrere Jahre durchgehalten. Da wirkt die jetzige Ausstellung fast schon eklektisch. Gleich drei Themen: Fenster, Brücken, Frauen. Das mit den Frauen ist eine Überraschung, tauchten doch Menschen in seiner Bildwelt bisher höchstens schemenhaft oder fragmentiert auf. Diese Weiber nun sind fast durchweg paarweise von hinten an einem Strand spazierend zu sehen, nur die Farbstimmung wechselt. Recht gleichförmig wirken die Ansichten von Hohlräumen unter Brücken. Vielseitig wird es aber bei den Fenstern, die als solche nur aus den Bildtiteln erkennbar werden. Es sind Prager Fenster. Da kommen Assoziationen auf an die Entsorgung kaiserlicher Beamter auf einen Misthaufen anno 1618. Doch hier wird es nicht historistisch. Den Farbfeldmalereien sind Beschriftungen krakelig eingefügt, manchmal auch Silhouetten von Personen.

Etwas enttäuschend finde ich aber, dass er jetzt ganz brav mit „Osten“ signiert (auch wenn das nicht sein bürgerlicher Name ist). Früher hatte er aber so schöne Signaturen wie „XXX“, „z.B.“ oder „sachlich richtig“.

"Selma" aus der Serie "Parge Fenster"

„Selma“ aus der Serie „Prager Fenster“

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Kunst last minute

Natürlich war es eine blöde Idee, die Neo-Rauch-Ausstellung nach vier Monaten Dauer ausgerechnet am letzten Tag zu besuchen. Also anstehen für die Kunst – die Schlange kringelte sich um das Bildermuseum. Zur Ausstellung selbst ist ja jede Menge geschrieben worden. Grandios ist es schon, dieses von vornherein zum Scheitern verurteilte Heldentum, dem der Gegenstand abhandengekommen ist, dessen Protagonisten aber zu feige sind zu resignieren. Trotzdem ist mir der Hype um den Künstler nicht ganz verständlich. Es gibt viele, die nicht schlechter sind. Zum Beispiel Jan Kummer.

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Disziplin im Becken

Der Fernsehkommentator sagt, es habe bei den Europameisterschaften in Budapest wieder eine deutsche Medaille in den Beckendisziplinen gegeben. Das ist doch mal ein innovativer Begriff, da die Bezeichnung Matratzensport wirklich schon sehr abgegriffen wirkt.

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Görlitz

Bisschen doof kam ich mir schon vor, nur zwei Tage nach der Flut mit dem Fotoapparat durch Görlitz zu rennen, während die Leute an der Uferstraße noch Schlamm aus den Kellern räumen. Typisch Katastropentourist! Aber es war doch der einzige durchgehend sonnige Tag seit zwei Wochen, und ich muss eben für ein Büchlein die Sehenswürdigkeiten der Stadt erfassen. Und davon gibts ziemlich viel. Wirklich eine schöne Stadt, was aber den Einwohnerschwund nicht aufhält.

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Pirol zum Geburtstag

Frank Klötgen ist ein Autor, den ich nicht nur wegen seiner Texte schätze. Ich wundere mich auch, wie man solch eine Produktivität hinbekommt. Er singt in einer Band, schreibt Romane, Gedichte, Geschichten, reist pausenlos durch das Land. Und er führt ein Blog mit ebenso häufigen wie üppigen Beiträgen. Dieses Stadtkind wird nun drei Jahre alt und zugleich ist der 500. Beitrag zu feiern. Natürlich macht das Frank auf die ihm eigene Weise. Er hat ein Gedicht Der Pirol geschrieben, frei nach Schillers Glocke und mit gleichviel Wörtern. Wer zu faul zum Lesen ist, kann es sich auch als MP3 anhören.

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Unterhaltsames Fachbuch

Es ist schon eine Weile her, dass ich zuletzt von einem Buch begeistert war. Nun ist es wieder passiert mit Der Anthologist von Nicholson Baker. Bakers „Held“ und Ich-Erzähler Paul Chowder ist ein amerikanischer Dichter jenseits der 50, der noch auf den großen Durchbruch wartet. Nun hat er eine Anthologie zusammengestellt und muss das Vorwort dafür schreiben. Daran scheitert Chowder, der im „normalen Leben“ ein Chaot und Tolpatsch ist. Weiterlesen

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Groß und größer

Nicht nur die Bühne war beim Grand Slam of Saxony des Livelyrix-Vereins wieder mal in eine andere Richtung gedreht, auch die Zuschauerzahlen errreichten neue Marken. 800 dürften es wohl locker gewesen sein, die am Freitag in die Junge Garde im Dresdner Großen Garten kamen. Bald wird man ins nagelneue Dynamo-Stadion umziehen müssen. Gewonnen hat 2010 der Erfurter Nachwuchstheologe Bleu Broode vor Mark-Oliver Schuster und Thomas Jurisch. Glückwunsch!

Das blonde Putto da auf der Bühne ist Featured Poet Julius Fischer.

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