Wenn Bücher ganz nah am Zeitgeist sein wollen, kann es passieren, dass Ereignisse dazwischen kommen, die vieles umkrempeln. So ist es Max Czollek passiert, der im März den Feinschliff an seinem Langessay vornehmen wollte und vom Lockdown überrascht wurde. Mehr Zeit also, aber auch neue Themen. Zum Beispiel der gesellschaftliche Zusammenhalt, der damals greifbar erschien und heute in weite Ferne gerückt ist.
Beim Lesen dauert es eine ganze Weile zu erfassen, worum es Czollek eigentlich geht. Erst auf Seite 154 von kaum mehr als 200 Seiten fällt in Bezug auf das US-amerikanische Combahee River Collective das Stichwort Identitätspolitik, das gegenwärtig trendet und für heftige Kontroversen sorgt. „Das Konzept der Identity Politics war von diesem Anfang an ein Versuch, der Komplexität von Diskriminierung gerecht zu werden.“ Diese Komplexität ist ohne Zweifel tägliche Realität. Doch Identität wird von verschiedenen politischen Standpunkten aus ganz unterschiedlich, manchmal aber auch in vereinseitigender Zuspitzung wieder überraschend übereinstimmend interpretiert. Was der rechtsextremen Identitären Bewegung die Zugehörigkeit zu einer Volksgemeinschaft ist, findet man bei manchen Superlinken wieder in der Etikettierung von diversen Minderheiten. Czollek arbeitet sich vor allem an dem seit zwei Jahrzehnten vor allem bei Konservativen beliebten Begriff der Leitkultur ab, die in den vergangenen Jahren durch das eine Fiktion konstruierende Attribut christlich-jüdisch ergänzt wurde. So recht der Autor mit der These hat, dass es nie eine kohärente Nationalkultur gegeben hat, so verliert er sich in der Argumentation in seltsame Formulierungen: „Immer waren da Juden, Frauen, Linke, die das Bild der angestrebten völkischen Reinheit störten.“
Max Czollek schreibt über den „Irrsinn des deutschen Volksbegriffs“ und auch darüber, wie wichtig es ist, auf Feinheiten im sprachlichen Ausdruck zu achten. Allerdings macht er dann selbst eine Ausnahme. Während er bei Bezeichnungen von Personengruppen fast konsequent das Gendersternchen einfügt und sogar „keine*r“schreibt, heißt es bei ihm andererseits gleichermaßen konsequent „Jüdinnen und Juden“. Bei der Gruppierung, der er sich am nächsten fühlt, kommt so eine Schreibweise plötzlich nicht in Frage. Ebenso wenig wird klar, ob er mit Jüdinnen und Juden tatsächlich Gläubige dieser Religionsgemeinschaft meint, oder hier selbst dem Irrsinn des Volksbegriffs folgt.
So wie Identitätspolitik ist gegenwärtig auch Cancel Culture eines der Schlagworte heiß laufender Debatten. Czollek macht seinen Standpunkt anhand des schon sehr ausführlich diskutierten Übertünchens eines Gedichts von Eugen Gomringer an der Wand einer Berliner Hochschule fest, da es angeblich sexistisch sei. Auch hier ist seine Argumentationsweise ziemlich schräg: „Charles Bukowski muss nicht unbedingt an die Fassade eines Frauenhauses.“
Nach der mäandernden Kritik an verschiedenen gesellschaftlichen Vorgängen kommt Czollek dann endlich zu einem Vorschlag der Gegenwartsbewältigung, wie das Buch sich ja nennt. Der fällt überraschend aus. Im Sinne der Identitätspolitik gibt es gegenwärtig viele Stimmen, die mehr spaltend als auf Solidarität ausgerichtet wirken. Über Probleme Schwarzer sollten nur diese selbst sprechen, über Feminismus ausschließlich Frauen etc. Max Czollek lehnt dies ab: „Verbündete sind nicht gegen Diskriminierung, weil sie diese persönlich trifft. Sie sind gegen Diskriminierung, weil Diskriminierung für sie nicht hinnehmbar ist.“ Überzeugender wäre sein Plädoyer aber, würde er auf die separierenden Tendenzen konkret eingehen, etwa dem Feindbild der „alten, weißen Männer“ oder dem Gerede der Leipziger Journalistin Sibel Schick von „Cis Männern“, dem Übel per se.
Solche Sortierungen führen letztlich dazu, nach seiner eigenen Diskriminierung zu suchen. Die kann dann auch darin bestehen, zwar männlich, cis, weiß und hetero zu sein, aber eben Ostdeutsch. Schon hat man seine Schmollecke gefunden. So sympathisch Czolleks Ablehnung solcher Schubladen erscheint, fällt doch auf, dass nicht allein bei ihm ein Kerngedanke linken Denkens vollkommen abhanden gekommen ist – die Widersprüche zwischen sozialen Klassen und Schichten. Ist der rumänische Leiharbeiter bei Tönnies aufgrund angeborenen biologischer Merkmale wirklich ein Privilegierter, während ein dunkelhäutiger Milliardär unterdrückt wird?
Das abschließend formulierte Projekt einer jüdisch-muslimischen Leitkultur ist unübersehbar Ironie. Okay. Aber kann man in einem Land, in dem zumindest im Osten die große Mehrheit ungläubig ist, Überlegungen zu kulturellen Minimalübereinkünften nicht vielleicht auch jenseits aller Religionen denken? Und stattdessen Marx wieder ins Quellenverzeichnis aufnehmen und über den Antagonismus von Kapital und Arbeit sinnieren?
Max Czollek. Gegenwartsbewältigung
Carl Hanser Verlag München 2020, 208 Seiten, 20,00 Euro
ISBN 9 783446 267725
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