Seit Wochen ist der angebliche Ukraine-Konflikt (worin besteht der eigentlich?) Hauptthema der Außenpolitik und zweitwichtigstes Thema der Medien nach Corona, knapp vor Olympia, Fußball und Diätratgebern.
Wir sind wieder nach Berlin gefahren. Um den dritten Geburtstag der Enkelin zu feiern. Nachdem sie ins Bett gebracht wurde, kam es eben zur Diskussion mit differenzierten Haltungen. Meine Frau ist Russin, bezeichnet Putin klar als Diktator, hat aber zur Ukraine eine etwas andere Haltung als ich. Die Tochter hat dort direkte Verwandschaft, macht sich große Sorgen. Nicht nur um diese Leute, auch um ihre kleine Tochter. Sie denkt darüber nach – angesichts Bidens Getöse von einem neuen Weltkrieg – wohin man denn schnellstmöglich ein Flugticket buchen könnte.
Gestern kam es zur familieninternen Diskussion, warum es denn keine Großdemonstrationen gegen den drohenden Krieg gibt. Wir sind doch vor fast genau 19 Jahren extra nach Berlin gefahren, um mit mindestens einer halben Millionen Menschen gegen den Einmarsch in den Irak zu demonstrieren. Der konnte zwar nicht verhindert werden, aber zuminderst die nicht direkte Beteiligung Deutschlands könnte man als Erfolg werten. Warum gehen wir heute nicht auf die Straße?
Warum demonstrieren wir nicht gegen diesen tatsächlich möglichen Krieg, der wie jeder andere Krieg ein Scheißkrieg wäre, und für uns noch viel gefährlicher und näher als für die USA? Und der hier viele Familien wie die meine ganz direkt betreffen würde. Dagegen war der Irak-Krieg eher ein Abstraktum. Trotzdem sind wir damals aufgestanden. Heute nicht.
Am morgen nach der unergiebigen nächtlichen Diskussion schaue ich bei Twitter rein. Marina Weisband, Migrantin mit ukrainischen Wurzeln, schreibt: “ Wird die Friedensbewegung in Deutschland sich morgen wohl zu einem breiten Protest vor der russischen Botschaft versammeln…?“ Und Rupecht Polenz antwortet: „Nein. Sie trifft sich vor der amerikanischen Botschaft und demonstriert gegen die NATO.“ Weisband ist heute bei den Grünen, war prominente Piratin. Polenz ist CDU, gehört da aber eher zum linksradikalen Flügel.
Das hört sich undifferenziert bipolar an, trifft aber genau das Problem. 2003 wussten wir, gegen wen wir demonstrieren. Was nicht heißt, dass wir Sadam Husseins Politik gut fanden. Aber die Kriegsbegründungen George W. Bushs waren all zu vorgeschoben. Heute sind das in gleichem Maße die Begründungen Putins für eine (fortgesetzte) Aggression gegen die Ukraine. Können wir aber hier gegen Putin demonstrieren? Er würde das für eine bestellte, staatlich manipulierte Meinungsäußerung halten und genau so darstellen und nach innen hin als Beleg für die allgemeine Feindschaft des Westens gegen Russland ausschlachten.
Biden, die Nullnummer im Weißen Haus, gießt Öl ins Feuer. Er scheint enttäuscht zu sein, dass der von ihm genannte 16. Februar als Tag des Angriffs nicht eintraf, nennt nun andere Termine. Wie die „Querdenker“ mit ihren Prognosen für den Tod aller Geimpften. Das Gefühl wächst, dass er sich den Konflikt herbeiwünscht, um von seiner Schwäche ablenken zu können.
Heute nachmittag habe ich aber auf Phoenix eine Pressekonferenz von Putin, Lawrow & Co. live gesehen. Kein Zurückweichen. Sie wollen den Krieg oder zumindest die Annexion der Separatistengebiete im Osten der Ukraine. Alle Kompromisse werden abgelehnt.
Würde ich gegen diesen Schießkrieg auf die Straße gehen, dann müsste das tatsächlich ein Protest gegen Putin sein. Bei aller Kritik an Bidens Rhetorik. Und bei aller Kritik an der deutschen Politik, die Waffen an andere Aggressoren wie die Türkei und Saudi Arabien liefert. Trotzdem: Gegen die diplomatischen Bemühungen Deutschlands und auch Frankreichs bezüglich der Ukraine will ich nicht demonstrieren.
Vorige Woche stand eine „Mahnwache“ in der Leipziger Innenstadt mit Friedenstaube, Regenbogenfahne und der weiteren Protestfolklore. Und ich lese auf einem handgeschriebenem Plakat, dass die deutsche Presse nur Lügen über Putin verbreitet. Mit diesen Leuten auf die Straße gehen für den Frieden? Und dann Neonazis und durchgeknallte Linke á la Wagenknecht treffen`? Ohne mich.