Ich bin in einer Schleife gefangen. Nur ist die gegenwärtige Drehung viel heftiger als die vorige. Vor anderthalb Jahren habe ich auf einen Artikel des Sprachlos-Blog reagiert, der sich auf die Krawalle vom 12. Dezember 2015 in der Leipziger Südvorstadt bezieht. Dort distanziert man sich nur oberflächlich von der Gewaltorgie, stattdessen werden sowohl die Medien als auch die im Bio-Laden einkaufende Bürgerin gebrandmarkt, weil sie das Wort Extremismus in den Mund nehmen. Jeder, der das tut, hänge wohl Eckard Jesses Hufeisentheorie an, welche die eigentliche Gefährdung der Demokratie sei. Gerade habe ich mir beide Artikel, den im Sprachlos-Blog wie auch meinen eigenen, nochmals durchgelesen. Korrigieren muss ich mich nicht, nur ergänzen.
Nach dem G20-Weekend in Hamburg bleibt der Sprachlos-Blog seltsam sprachlos, obwohl doch viel zu analysieren wäre. Also fragte ich auf FB einen der Admins an, wo denn die Rechtfertigung für die Ausschreitungen bleibt samt Kennzeichnung der Kritiker als Jesse-Jünger. Von Verleumdung und unterster Schublade ist in seiner Reaktion per PN die Rede. Ich solle nicht auf die Nachricht antworten. “Schau” heißt es dann zum Abschluss. Mal schaun.
Was diese sogenannten Autonomen in Hamburg angerichtet haben, ist für alle Linken so ein Bärendienst wie die Kölner Ereignisse der Silvesternacht 2015/16 für alle Migranten aus muslimischen Ländern. Der Generalverdacht schwebt über allem und über allen.
Im Nachgang wird nun von linker Seite mehr oder weniger glaubhaft Distanzierung betrieben, zugleich aber über das Versagen sowohl der Polizei wie auch der Medien gesprochen. Ja, sicher. Es sollte einen Untersuchungsausschuss geben, der die Polizeimaßnahmen, speziell die Unverhältnismäßigkeit bei der Welcome to hell-Demo beleuchtet. Und es darf auch gern auf die Sensationsgeilheit der Medien eingegangen werden, an erster Stelle auf die illegitimen Fahndungsaufrufe von BILD.
Aber: Die Exzesse hätten ohne Zweifel auch ohne die Eskalation seitens der Polizei stattgefunden. Für diesen Zweck, nur dafür, sind Autonome aus ganz Europa speziell angereist. Da wird man sich doch nicht etwa auf friedliche Demos oder gar kreative Aktionen beschränken, nur weil die Bullen mit Blümchen werfen. Nein, es muss brennen. Den Leipziger Ausschreitungen im Dezember 2015 ist keine polizeiliche Provokation vorausgegangen. Wenig später (oder war es davor, weiß nicht mehr genau) zogen ebensolche Autonome vom Clara-Park zur Innenstadt, griffen Gerichte und andere Institutionen an. Hier fehlte sogar ein konkreter Anlass. Das System angreifen! In Hamburg stellte sich “das System” nun in Form von Kleinwagen, Cafés und einem alternativen Stadtviertel dar. Sehr clever.
Ich nehme mir das Recht, diese Vollpfosten als strunzdumm zu bezeichnen. Das eigentlich Schlimme ist aber, dass es eben einige Politiker der Linken wie auch Journalisten und Intellektuelle gibt, die sofort relativieren möchten und die Schuld bei anderen suchen. Und in den sogenannten sozialen Medien kursieren Post wie “Da heulen die Kleinbürger wegen paar kaputter Autos und Supermärkte rum, während der Kapitalismus viel mehr kaputt macht.” Es geht überhaupt nicht um den materiellen Schaden. Der wird schnell repariert, ist als Arbeitsbeschaffungsmaßnahme sogar ausgesprochen kapitalismusfreundlich. Der ideelle Schaden ist schwer zu beheben. Befürwortet man linke Politik, steht man jetzt in einem stetigen Rechtfertigungszwang. Gutbürgerliche Kreise inklusive der SPD nutzen das schnellstens, um jede Unterstützung für Projekte zu streichen, die irgendwie nach links aussehen. Wunderbar.
Es gibt Extremismus, rechten, linken, islamistischen, christlichen. Und jenseits dessen existiert nicht nur eine “Mitte”, sondern eben auch Linke, die mit den Autonomen absolut nichts am Hut haben. Und sicher auch rechtskonservative Nationalisten, die nichts mit NSU und Kameradschaften zu tun haben wollen. Und konservative Muslime, die gegen Islamismus kämpfen. Wenn dann Intellektuelle wie im Sprachlos-Blog alle, die von Extremismus sprechen, als Demokratiefeinde bezeichnen, sitzen gerade sie der Hufeisentheorie auf, die sie bekämpfen wollen. Die Grenzlinie zum Extremismus ist die Haltung zur Gewalt. Insofern ist es auch Quatsch, die Autonomen als gewaltbereit zu bezeichnen. Sie sind nicht dazu bereit, wenn es die Situation erfordert, sie suchen die Gewalt, sind gewaltgeil. Jegliche Relativierung dessen ist mir zuwider.
Es ist gerade in Mode gekommen, Artikel zu veröffentlichen á la Warum ich nicht mehr links bin. Ende April schrieb Verena Friederike Hasel über ihre Enttäuschung mit ihrer Einstellung, auf der guten Seite stehen zu wollen. Wenig später folgte Monika Maron in der NZZ. Sie berichtet, schon lange FDP zu wählen, weil “das am wenigsten Schaden anrichte”. Interessant, gerade die Verfechter eines entfesselten Turbokapitalismus richten also am wenigsten Schaden an. So wenig Analysefähigkeit hätte ich der Schriftstellerin gar nicht zugetraut.
Es gibt ein Bonmot, das zumeist Churchill zugeschrieben wird: „Wer mit 20 Jahren nicht Sozialist ist, der hat kein Herz, wer es mit 40 Jahren noch ist, hat kein Hirn.“ Es ist vor allem bei bekennenden Rechten beliebt, selbst wenn sie auch mit 20 nicht links waren. Bezeichnend daran ist, dass Linkssein hier als eine emotionale Sache aufgefasst wird, jenseits der rationalen Reflexion. Für Hasel und Maron mag so ein emotionales Herangehen zutreffen, daher die Enttäuschung. Doch es trifft ebenso auf die Autonomen zu. Reflexion ist auch hier nicht zu finden, nur Emotion. Diesmal nicht in Form von Gutseinwollen, sondern blanker Wut. Wenn diese Typen dann nicht mehr links sind, landen sie ohne Umwege ganz weit rechts wie Horst Mahler.
Gibt es daran etwas zu verteidigen oder zu relativieren? Für mich nicht. Schau schau!
- Ein privates Blog von Jens Kassner zu Kunst, Literatur, Politik, Alltag und anderen Themen
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