Den Untertitel muss man gewichtiger nehmen als die eigentliche Überschrift Russland verstehen des Buches von Gabriele Krone-Schmalz. Da steht: Der Kampf um die Ukraine und die Arroganz des Westens. Folglich ist es keine Anleitung zum Verständnis der russischen Innen- wie Außenpolitik. Es geht wirklich nur um die Ereignisse in der Ukraine seit 2014 nebst Einlassungen zur Vorgeschichte. Die langjährige Russland-Korrespondentin der ARD kennt das ehemalige Sowjetreich gut und hat offenbar dabei auch eine echte Sympathie für das riesige Land und seine Bewohner entwickelt.
Das 2015 in erster Auflage erschienene Buch hat einen klar aufklärerischen Anspruch, der da lautet: Die westlichen Medien, auch die großen, GEZ-finanzierten, zeichnen ein verzerrtes Bild der Ukraine-Krise. Nun aber kommt Gabriele Krone-Schmalz und rückt das zurecht. Vor allem im einführenden Kapitel wird sie nicht müde zu betonen, wie wichtig es für Journalisten sei, die Wortwahl immer wieder zu durchdenken und die Herkunft von Nachrichten und ihre Glaubwürdigkeit zu überprüfen. Gut. Leider unterlaufen ihr in dieser Hinsicht selbst etliche Fehler. Gerade wenn man solch einen Anspruch hat, sollten Autorin wie auch Lektoren des Verlages besonders penibel arbeiten.
Die Journalistin beklagt Schludrigkeiten ihrer Kollegen, häufig mit dem Unterton, dass es Absicht sei. So kritisiert sie die Formulierung in der Tagesschau Armee und prorussische Separatisten werden beschuldigt. Da fehle der Hinweis, dass es sich um die ukrainische Armee handele (S. 47). Welche denn sonst? Sie selbst kämpft doch für die Darstellung, dass die russische Armee in diesem Krieg keinesfalls beteiligt sei.
Zum Vergleich bezüglich der korrekten Wortwahl: Sie schreibt über die deutsche Ostpolitik der siebziger und achtziger Jahre (S. 13). Fehlt da nicht eine Vorsilbe? Es gab zu dieser Zeit zwei deutsche Staaten. Da kommt dann ein Teil des Untertitels zum Tragen: die Arroganz des Westens. Frau Krone-Schmalz gehört dazu. Das erinnert mich an eine Sendung von ZDF History, wo es um Willy Brandts Kniefall in Warschau ging und gesagt wurde: Es war der erste Besuch eines deutschen Regierungschefs in Polen nach dem Zweiten Weltkrieg. Und danach gleich: Deutschland und Polen hatten damals noch keine diplomatischen Beziehungen. Zwei Falschdarstellungen nacheinander. Das hat mit diesem Buch nicht direkt zu tun. Doch auch hier fällt auf, dass Deutschland die alte BRD ist. Dass es für die meisten Menschen im Westen schwer vorstellbar sei, was eine brutale Umstellung von Plan- auf Marktwirtschaft bedeute, schreibt sie auf S. 61. So so.
Sprache kann so entlarvend sein. (S. 35) Genau. Die Unschärfen, wenn nicht gar Verdrehungen, die Gabriele Krone-Schmalz Kolleginnen und Kolleginnen vorhält, häufig zu Recht, unterlaufen ihr immer wieder selbst. Bezeichnend dafür ist die Rechtfertigung der Krim-Annexion. Sie gibt sich große Mühe nachzuweisen, dass diese „Sezession“ nicht völkerrechtswidrig gewesen sei. Kann es eine demokratische Abstimmung über eine Sezession geben, nachdem schon vollendete Tatsachen geschaffen wurden? Da wo es ihr passt, arbeitet sie bewusst mit dem Konjunktiv: Getarnte russische Streitkräfte sollen laut Kiew auch beteiligt gewesen sein, was Moskau bestreitet. Dass Putin eben jenen Militärs ein Jahr später Orden anheftete, damit offiziell deren Zugehörigkeit zur russischen Armee bestätigte, wird an keiner Stelle erwähnt.
Sie gibt wieder, dass Chruschtschow 1954 die Krim der Ukraine geschenkt hat. Anlass war der Jahrestag der 300-jährigen Zugehörigkeit der Ukraine zum Russischen Reich. (S. 21) Für den westlichen Leser muss der Eindruck entstehen, 1654 sei der ukrainische Staat mit dem russischen vereinigt worden, friedlich oder auch nicht. Doch wie sogar aus ihrem weit hinten im Buch angesiedelten knappen Abriss zur ukrainischen Geschichte hervorgeht, kann es diese Vereinigung gar nicht gegeben haben. Einen ukrainischen Staat gab es damals nicht.
Man kann mit der Darstellung von Ereignissen Meinungen beeinflussen, aber auch mit dem Weglassen. Das macht Krone-Schmalz. Nirgendwo geht sie darauf ein, dass sowohl in russischen Medien als auch manchen westlichen die heutige ukrainische Regierung als faschistische Junta bezeichnet wird. Allerdings unterstützt sie diese Lesart durch mehrfache Bemerkungen über die dortigen Ultranationalisten. Die Koalition aus fünf Parteien besteht außer der obskuren Radikalen Partei aus Kräften der politischen Mitte. Ihr kommt es darauf an, dass Rechter Sektor und Swoboda, zwei rechtsextreme Parteien, trotz des Scheiterns an der 5-Prozent-Hürde im Parlament vertreten sind. Und in westeuropäischen Ländern? Das gibt es Nazis in Fraktionsstärke in den Parlamenten, ohne dass man die Regierungen als Junta bezeichnet.
Den Begriff Neurussland erwähnt sie an einer Stelle, aber lediglich, dass er herumgeistere. Wegen des militärischen Eingreifens der Ukraine gibt es heute „nur“ die Abspaltungen im Donbass. Die Separatisten propagierten aber ganz offen, dass ein riesiges Gebiet von Charkiw bis Odessa eigentlich zu Russland gehöre.
Die Geschichte der früheren sowjetischen Staaten nach 1990 kann in dem dünnen Buch nur angerissen werden. Gabriele Krone-Schmalz tut dies vor allem unter der Prämisse, dass der Westen trotz anderer Verlautbarungen Russland nie wirklich als Partner anerkannt habe. Da ist etwas dran. Aber es kommen andere Faktoren dazu. Manches was sie beschreibt, so die Vorgabe des IWF zu niedrigen Getreidepreisen, hat nichts mit einer Russophobie zu tun, sondern gehorcht schlicht den Raubtiergesetzen des globalen Kapitalismus und wird in anderen Weltgegenden genau so gehandhabt, selbst gegenüber EU-Staaten wie Griechenland.
Und es spielt auch eine Rolle, dass die Sowjetunion bzw. Russland in Folge zwei Oberhäupter hatten, die eine seltsame Politik betrieben haben. Für den inkompetenten Jelzin räumt sie das auch ein. Nicht aber für Gorbatschow, der sich in seiner Unentschlossenheit zwischen alle Stühle gesetzt hat. Schon den Rücktitel schmückt ein Gorbatschow-Zitat, im gesamten Text ist kein Ansatz von Kritik an seiner Arbeit zu finden. Im Gegenteil: Es war eine politische Meisterleistung, die Sowjetunion im Wesentlichen ohne Blutvergießen aufzubrechen. (S. 58). Für die Menschen im Baltikum und in Georgien, deren Angehörige bei Demonstrationen für die Unabhängigkeit auf Befehl Gorbatschows erschossen wurden, muss sich das wie Zynismus lesen.
Auch seine Haltung zur NATO wird eigenartig erklärt. Sie deutet selbst an, dass er die Wahl hatte, eine Neutralität Deutschlands als Voraussetzung für die Vereinigung einzufordern. Warum nur hat er es dann nicht getan?
Die Journalistin hat mit der Publikation den erklärten Anspruch, Einseitigkeiten westlicher Berichterstattung zu korrigieren. Stellenweise gelingt das. Beispielsweise bezüglich der Ereignisse in Georgien 2008. Dass Saakaschwili diesen Krieg geplant und ausgelöst hat, wird hierzulande zu häufig verschwiegen. In Bezug auf die Ukraine aber, Hauptthema des Buches, ersetzt sie weitgehend eine Einseitigkeit nur durch eine andere.
Man lese dazu auch: https://heise.de/-3714562
Ein Überblick über die derzeit vorherrschenden Meiningen.
GvH