Ziemlich überrascht war ich, als vor etwa zwei Wochen eine Anfrage kam, ob ich eine Diskussion nach der Lesung von Max Czollek aus „Desintegriert euch“ in den Kunstsammlungen Chemnitz moderieren könne. Ich fragte erst einmal zurück, ob denn Czollek damit einverstanden sei. Nein, war er nicht. Keine Überraschung für mich.
Trotzdem war es ein Anlass, das Buch überhaupt erst mal zu kaufen und zu lesen. Im vorigen Jahr hatte ich mir vor dem Urlaub als Lesestoff „Gegenwartsbewältigung“ zugelegt und dann besprochen – kritisch, aber freundlich. Und in diesem Sommer habe ich ziemlich viele Artikel gelesen zur Auseinandersetzung Maxim Biller-Max Czollek, wer denn eigentlich ein Jude sei.
Zu Beginn dieser heftigen Kontroverse habe ich auf Twitter Max Czollek direkt gefragt, warum es ihm denn so wichtig sei, als Jude gelten zu wollen. Nach der Lektüre von „Desintegriert euch“ weiß ich, dass dies eine ausgesprochen naive Frage von mir war. Darum kam auch keine Antwort.
Jetzt weiß ich, dass Czolleks ganzes Weltbildbild darauf beruht, Jude zu sein und mit Infragestellung dieser Identität zusammenstürzt.
Eine sehr seltsame Klammer des Buches ist die anfängliche Feststellung, dass nicht alle Juden und nicht alle Deutschen gleich seien, ergänzt durch die Bemerkung auf der vorletzten Seite, „dass wir uns verabschieden sollten von der Vorstellung einer klar abgegrenzten, widerspruchsfreien Identität, wie sie zentral ist für alle gegenwärtigen kulturpolitischen Debatten. Stattdessen sollten wir uns stärker der inneren Fragmentierung bewusst werden, die jeden einzelnen Menschen ausmacht.“ Sehe ich genau so und habe das auch schon so ausgedrückt. Zwischen diesen ein- und ausführenden Bemerkungen aber gilt für Czollek die strikte Trennung des „wir“ und „ihr“ als kompakte, indifferente Massen. Das drückt er schon sehr deutlich aus bezüglich des „Sommermärchens“ 2006: „Die Deutschen erlebten die WM 2006 als eine deutsche Erleichterung darüber, dass es endlich wieder erlaubt war, die Deutschlandfahne zu schwingen wie früher. Das ist es, was ich Täter*innengemeinschaft nenne.“ NEIN, Herr Czollek, mich hat dieses Fahnenschwingen angekotzt so wie fast alle meine Freunde und Bekannten. Doch das zählt nicht. Als Deutscher gehöre ich zur Täter*innengemeinschaft, egal was ich sage und tue.
Ich hatte zwei Großväter, die als Wehrmachtssoldaten im Krieg waren. Ob sie dort an Kriegsverbrechen beteiligt waren, weiß ich nicht. Für Baupioniere im rückwärtigen Bereich eher unwahrscheinlich. Aber ich weiß es nicht. Doch für Czollek waren sogar meine Großmütter hausbackene Nazi-Omas. Selbst wenn sie es gewesen wären, bin ich dafür nicht verantwortlich. Ich bin dritte Generation, meine wunderbare Enkelin ist sechste Generation nach dem Krieg. Doch auch sie ist verantwortlich für unsere Nazi-Vorfahren. Da gibt es kein Entrinnen. Sie gehört zur Täter*innengemeinschaft. Dass sie halbe Russin ist, dürfte da keine Rolle spielen, auf solche Feinheiten kommt es nicht an.
Damit macht Czollek es den Rechten und Rechtsradikalen leicht, die ein Ende des „Schuldkults“ fordern. Ist doch egal, was wir tun, wir bleiben schuldig. Wasser auf die Mühlen von Höcke & Co.
Um drei zentrale Begriffe dreht sich Czolleks Argumentation: Leitkultur, Integration und Gedächtnistheater. Mit der Leitkultur hat er es leicht, besonders, wenn das Attribut „deutsche“ hinzugefügt wird. Als Bassam Tibi, von Czollek als deutscher Politologe vorgestellt (solche Bezeichnung würde ihm bei einem jüdischstämmigen Deutschen nicht einfallen) 1996 den Begriff prägte, meinte er einen europäischen Wertekanon. Dann wurde dieser sehr schnell von Konservativen und Rechten angeeignet, bis hin zu Dobrindts von jeglichem Geschichtswissen befreiten Forderung nach einer Konservativen Revolution. Gegessen.
Integration. Mhhm, schwierig, wenn von Einwanderern etwas gefordert wird, was viele Eingeborene nicht erfüllen können und wollen. Nur: Czollek ist kein Einwanderer. Niemand fordert von ihm Integration. Multikulti ist ganz bestimmt eine problematische Sprachfindung, weil sei eher ein Nebeneinander als ein Miteinander assoziiert. Eben darum wird auch schon lange von Interkulturalität gesprochen, weil da der Austausch eingeschlossen ist, die Mischung.
Gedächtnistheater ist ein Begriff, der 1996 vom Soziologen Y. Michal Bodemann geprägt wurde. Die Rollen sind darin exakt festgelegt. Die Deutschen, die nicht offen antisemitisch sind, die Reue zeigen für die Verbrechen der Vorfahren, brauchen die Juden, um sich gut zu fühlen. Wenn niemand mehr da ist, den man um Vergebung bitten kann, wird man ja nicht erlöst. Dieses Gedächtnistheater will Max Czollek mit Desintegration durchbrechen. Also kein Vergeben, ewige Schuldzuweisung über Generationen hinweg, Absonderung der Guten und der Bösen mit klaren Trennungslinien. Immer wieder betont er, dass diese versöhnungswilligen und schuldbewussten Deutschen die Juden auf die Shoah und den Nahostkonflikt reduzieren, garniert mit Klezmer-Kitsch. Gerade für ihn aber ist die einzige Verbindung zum Judentum die Shoah.
Das Dumme für Czollek ist nämlich, dass er in diesem Sommer von der Realität eingeholt wurde. Kein Sommermärchen, ein Sommeralbtraum für ihn. Maxim Biller warf ihm vor, gar kein Jude zu sein, sondern Trittbrettfahrer.
Czollek hat einen jüdischen Großvater, der das KZ überlebte. Nach den Regeln der Halacha gibt es aber keine „Vaterjuden“, erst recht keine „Großvaterjuden“. Das wurde in Statements führender Funktionäre des jüdischen Lebens in Deutschland bestätigt. Er hat aber zwei deutsche Großmütter und einen deutschen Großvater. Was haben die eigentlich während des NS-Regimes so alles gemacht? Und wenn die Sippenhaft gilt, sogar über dutzende Jahrzehnte hinweg, wie viel Schuld nimmt Max Czollek dann auf sich, dass sein Vater Stasi-IM war?
Meine Einschätzung von „Gegenwartsbewältigung“ war viel zu freundlich formuliert, weil ich „Desintegriert euch“ nicht kannte. Czollek gehört zu den linken Identitären, die jegliche Solidarisierung verhindern möchten, auf Absonderung (Desintegration) aus sind, Identitäts-Grabenkämpfe ausfechten in einer Zeit fataler Probleme, die uns alle bedrohen.
In einem späten Kapitel des Buches führt er Beispiele an, die Vorläufer seiner Desintegrations-Forderung sein sollen. Zum Beispiel Bands wie Advanced Chemistry oder das Kollektiv Kanak Attak. Aus einer außerdeutschen Perspektive (viel verlangt von Czollek) hätte er auch Malcolm X anführen können, der sich in den USA der 1960er Jahre radikal gegen die Auffassung Martin Luther Kings stellte, dass Menschen aller Farbe gemeinsam gegen Diskriminierung kämpfen sollten. Desintegration eben.
Blöd für Czollek ist nun, dass sein Status als Stimme „der Juden“ massiv in Frage gestellt wurde. Er befindet sich plötzlich in einer ganz falschen Rolle im Gedächtnistheater. Er ist nun nicht Nichts, sondern Deutscher. Welcher Regisseur hat das veranlasst? Die Alternative, eventuell als Europäer oder als kosmopolitischer Intellektueller zu gelten, hat er sich selbst verbaut. Er ist eben Identitärer. Er baut Grenzen und ist nun darin gefangen. Er möchte der Jude sein, dem der verständnisbereite Teil der Deutschen im Theater Beifall klatscht. Ist er nicht, er sitzt plötzlich im Publikum ganz hinten.