Noch vor wenigen Jahren konnte der slowenische Pop-Philosoph Slawoj Žižek in seinem Buch mit dem bezeichnenden Titel Auf verlorenem Posten behaupten, dass der Begriff Kapitalismus aus dem allgemeinen Sprachgebrauch verschwunden sei. Die Finanzkrise von 2008 hat dem Schein-Zombie aber eine Mund-zu-Mund-Beatmung verpasst, heute ist er trotz eines erbärmlichen Verwesungsgestanks lebendiger als vor zwanzig Jahren, wo Francis Fukuyama wegen seines Siegesgrinsens das Ende der Geschichte einläuten wollte.
Zeit für Die Zeit, eine Serie Was ist die Alternative zum Kapitalismus? einzuläuten. Es fing so schön an. Im ersten Teil des Zyklus, erschienen in Nr. 46 am 10. November, arbeitete neben einem verzichtbaren Crashkurs zu Sozialutopien von Bibel bis Bolschewismus und weiteren Ausflügen in die Geschichte Wolfgang Uchatius sehr treffend das Grundproblem des gegenwärtigen Kapitalismus heraus – die Reichtumsfalle. Der dem Kapitalprinzip eingeschriebene Zwang zum ewigen Wachstum ist an die Grenzen gestoßen. Wir haben alles! Ja, nicht jeder. Aber prinzipiell. Nun bräuchte man eigentlich nur noch etwas gerechter verteilen und auf weitere Überproduktion verzichten. Doch das wäre ja kein Kapitalismus mehr. Zwar ist der weder im bundesdeutschen Grundgesetz noch in der amerikanischen oder französischen Verfassung festgeschrieben, aber wohl doch eine unumstößliche Basis unterdessen fast der ganzen Welt. Also beschließt die Bundesregierung lieber ein Wachstumssicherungsgesetz als ein Umverteilungsgesetz.
Der ganz intelligenten Zustandsanalyse hätten dann in der nächsten Ausgabe der Hamburger Wochenzeitung die eigentlichen Entwürfe für Alternativen folgen können. Doch darauf warte ich seit drei Wochen vergeblich.
In Nummer 47 ist schon die Überschrift bezeichnend: „Nichts ist kostenlos“ wird da Singapurs greiser Autokrat Lee Kuan Yew zitiert. Der singapurische Kapitalismus mag sich ja durchaus vom europäischen unterscheiden, das tut auch der japanische, aber wo steckt da die Alternative? War Nordkoreas Sozialismus etwa ein brauchbarer Gegenentwurf zu dem der DDR? Als Zugabe doziert schließlich noch der US-Wirtschaftswissenschaftler Niall Ferguson über die Renaissance des Staatskapitalismus. Auch nicht sonderlich originell.
Ein Lichtblick: In Nummer 48 diskutieren sechs Zeit-Redakteure – hinter krypischen Formeln verborgen, aber dennoch nicht anonym – über das utopische oder auch gesellschaftsverändernde Potenzial des Internets. Da werden, abgemildert durch den flapsigen Umgangston, durchaus Gedanken geäußert, die eigentlich nicht mehr so absolut originell sind, aber doch noch nicht zum Standard des politischen Denkens gehören. Beispielsweise zur subversiven Kraft der freiwilligen, unentgeltlichen Bereitstellung von Wissen im Netz oder des Crowdsourcing. Das Palaver schließt mit einem „Hallejuja“. Es kommt vom Ressortleiter Wirtschaft, nicht von der Ressortleiterin Glauben und Zweifeln. Dass zum Schluss des Artikels die Rede um einen Neuen Mensch geht, zeigt schließlich, dass trotz der netten Ansätze auch hier Kapitalismus mehrheitlich als eine mentale Angelegenheit verstanden wird.
Dem wird dann in Ausgabe 49 die Krone aufgesetzt: Die Menschen müssen erst noch lernen, was sie glücklich macht, sagen Verhaltensforscher. Dann ändert sich auch die Gesellschaft. Das ist die lange Unterzeile des Artikels Formel für ein besseres Leben von Uwe Jean Heuser. Na toll, kenn ich das nicht aus der jüngeren Geschichte, an der ich selbst noch teilgenommen habe? Eine Alternative zum Kapitalismus sollte das zwar auch sein, aber eine katastrophal unbrauchbare. Darum wird in den anderen Beiträgen auch gar nicht erst über die Umerziehungsprogramme diverser Diktaturen gesprochen, sondern das Himalaya-Königreich Bhutan als das Gegenentwurf gepriesen. Dort gibt es immerhin einen Minister für Glück. Sollte aber der nächste G 20-Gipfel beschließen, die Weltwirtschaft nach dem Beispiel Bhutans umzukrempeln, werden die Börsen so heftig darauf reagieren wie auf die Slow-food-Bewegung, die sich ja auch dem Wachstumssteigerungsgesetz entgegenstemmt.
So bleibt Die Zeit mit ihrer groß angekündigten Serie seltsam alternativlos. Vielleicht ist es ja doch das falsche Medium für solch ein Thema.