Anstößiger Verlierer

Die Liste der Verlierer jenes Moderne zu nennenden Prozesses ist lang. Der gesamte Adel gehört dazu, auch wenn er noch heute oder heute wieder beachtliche Einschaltquoten bei Vermählungen, Krönungen, Begräbnissen, Tunnelfahrten und sonstigen wichtigen Ereignissen erzielt. Das Handwerk, einst treibende Kraft, gehört dazu. Die Flora und Fauna dieser Welt hingegen ist ganz unschuldig in die Charts der Loser gekommen, kann dort heute aber einen Spitzenplatz behaupten.

Auch ganz weit vorn liegt die Kirche, nicht nur die katholische. Die Ironie dabei ist, dass Faktoren, die für die Entstehung der Moderne alles andere als nebensächlich sind, von ihr selbst ausgingen.

Da ist beispielsweise das heutige Verständnis des Phänomens Zeit zu nennen – Zeit als etwas Gerichtetes, Messbares, scheinbar Konstantes. Noch im frühen 20. Jahrhundert waren europäische Reisende in China und Japan überrascht, dass dort nicht nur Längenmaße je nach Steigung oder Schwierigkeit des Weges sehr unterschiedlich nach unseren Gewohnheiten ausfallen konnten, sondern auch Zeitabschnitte. Nachtstunden hatten eine andere Länge als Tagstunden. Für westeuropäische Mönche galt das schon im hohen Mittelalter nicht mehr. Der Gebetszyklus musste nach einem starren System durchgezogen werden. Turmuhren, später transportable Chronometer, entsprachen diesem Anspruch, während sich das Leben der Bauern noch über Jahrhunderte so wie in Asien flexibel nach den Rhythmen der Natur richtete. Kurztaktiger Sommer, langatmiger Winter.

Eine zweite Innovation, ausgerechnet von der Kirche angestoßen, war die Säkularisierung, nicht zu verwechseln mit Reformation, Kirchenfeindschaft oder gar Atheismus. Als der Kaiser des heiligen Römischen Reiches Heinrich IV. im kalten Januar 1077 seinen theatralischen Unterwerfungsakt in Canossa durchzog, war er offenbar der Verlierer dieses Kräftemessen mit dem Papst. So klar ist das aber nicht. Eigentlich war spätestens seit diesem Showdown entschieden, was schon im Neuen Testament angelegt wurde: Gott, was Gott gebührt, dem Kaiser, was ihm zusteht. In anderen christlichen Gegenden, speziell Byzanz, war das anders. Doch im Westen war die Trennung von Kirche und Staat, die Säkularisierung eben, kaum noch aufzuhalten. Die Zersplitterung des Territoriums – trotz der sich auf Landkarten imposant ausnehmenden Größe des Kaiserreiches, ist zweifellos ein Grund für das Auseinanderdriften der Gewalten. Gregor VII., Heinrichs Gegenspieler, war einer der Päpste, der am meisten zur Dämmerung der Moderne beitrug, speziell mit der vorläufigen Entscheidung des Investiturstreits. Weltliche und kirchliche Macht blieben eng miteinander verbunden, aber nicht als Liebespaar, eher als Januskopf.

Der dritte Prozess, mit dem die katholische Kirche sich als Hebamme der Moderne darstellte, ist in den Geschichtsbüchern kaum zu finden, dennoch am gewichtigsten. „Ora et labora“ war ein Leitspruch der reformierenden Mönchsorden des fortgeschrittenen Mittelalters. Während dieses „ora“, das getaktete Beten die Zeitmessung benötigte, war es diese Festschreibung der Arbeit, „labora“, auch der körperlichen, eine weltgeschichtliche Innovation von schwer zu überschätzenden Auswirkungen.

Sieht man sich heutige Wahlprogramme von Parteien an, quasi weltweit, und von straff links bis ganz rechts, steht die Erhaltung oder Schaffung von Arbeitsplätzen im Mittelpunkt. Die Menschen vor tausend Jahren hätten mit solcher Programmatik überhaupt nichts anfangen können. Nicht, weil alle pausenlos beschäftigt gewesen wären. Eher hätte die Forderung nach so einem verächtlichen Ding wie der produktiven Anstrengung den klaren Abrutsch unter die 5-Prozent-Hürde bedeutet. Doch es gab ja keine Wahl.

Arbeit gab es aber, schon immer. Und schon immer wurde sie verachtet. Wenn nicht sowieso Sklaven mit dem unverzichtbaren Übel betraut waren, dann eben der restliche Bodensatz der Gesellschaft. Die Geringschätzung der Arbeit, speziell der körperlichen, Gebrauchsgegenstände hervorbringenden, ist eine weltgeschichtliche Konstante über zehntausende von Jahren in allen Kulturkreisen. Auch Jesus geht in einem Gleichnis auf die Vögel ein, die nicht säen, aber trotzdem Essen.

Gerade durch die Tätigkeit der immer wieder verfettenden, dann aber erneut reformierten Orden, setzte sich langsam, ganz langsam, eine revolutionäre Ethik durch. Erstmals seit der Erhebung des Menschen aus dem Tierreich (wovon die Mönche nichts wussten und heute Fundamentalisten noch nicht daran glauben), galt die Gebrauchswerte hervorbringende Tätigkeit als etwas Wertvolles, der Anerkennung wert. Zwar hat Max Weber nicht ganz unrecht, wenn er den Geist (oder Ungeist) des neuzeitlichen Kapitalismus mit der puritanischen, antihedonistischen Lehre des Calvinismus verknüpft. Der Gott des Calvinismus verlangte von den Seinigen nicht einzelne »gute Werke«, sondern eine zum System gesteigerte Werkheiligkeit.1 Doch er selbst weißt darauf hin, dass die Grundlagen dafür schon in den Klöstern gelegt worden waren, die bisher der Elite vorbehaltenen Askese durch die Calvinisten nur zur Alltagsmaxime erhoben wurde.

Mindestens drei Sünden, vielleicht mehr, wider die Tradition hat sich der Katholizismus also geleistet. Die rational-lineare Zeiteinteilung, die Trennung von Kirche und Staat, die Erhebung der Arbeit zu einem Wert an sich. Das ist mehr, als Kopernikus, Voltaire, Watt oder Marx für die Moderne leisten konnten. Zu deren Lebzeiten war der Zug eh schon abgefahren. Daran hatten keine Jesuiten mehr etwas ändern können, keine Scheiterhaufen, keine Romantik.

1Max Weber: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. Max Weber: Gesammelte Werke, S. 4104.

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