Aufklärung über Aufklärungen

Die Pluralbildung macht neugierig. Aufklärungen. Gab es denn nicht diese eine, einzigartige, weltverändernde Aufklärung?
Wege in die Moderne heißt der Untertitel des Reclam-Heftchens von Dan Diner. Er ist Israeli und war von 1999 bis 2014 Direktor des Simon-Dubnow-Instituts an der Uni Leipzig. Das sympathische an dem Büchlein ist, dass Diner zwar einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen Aufklärung und Moderne herstellt, aber im Unterschied zu vielen anderen Autoren weit ausholt und die Voraussetzungen für diese Entwicklungen im Zeitraum vom 13. bis 15. Jahrhundert vermutet. Außerdem sucht er nach Gründen auch im materiellen Bereich, nicht allein in der geistigen Sphäre. Besonders den Buchdruck sieht er als eine zwingende Voraussetzung für die Aufklärung und die für ihn damit unmittelbar verbundene Moderne an, aber auch die Entdeckungsreisen des 15. und 16. Jahrhunderts. Diese Schübe lösten endgültig eine Entwicklung aus, die in ihrer schier grenzenlosen Dynamik von anderen Kulturen über eine lange Dauer nicht einholbar war.


Warum nun aber Aufklärungen als Mehrzahl? Im Grunde genommen grenzt sich Diner von seinem selbstgewählten Buchtitel ab. Es gibt Theorien von anderen Aufklärungen als jener des 18. Jahrhunderts in Europa. Besonders das Konstrukt einer angeblichen arabischen Aufklärung, die von außen her, speziell eben durch die Europäer, durch einen “Wissensraub” erstickt worden sei, weist er zurück. Gründe für das interne Scheitern aufklärerischer Ansätze in islamischen Ländern sieht er in der fehlenden Tradition autonomer Selbstverwaltung sowie in der teilweise gewollten technologischen Rückständigkeit. So wurde der Buchdruck im Osmanischen Reich, das auch große Teile der arabischen Welt beherrschte, erst mit Jahrhunderten Verzögerung übernommen. Eine schnelle und billige Verbreitung von Wissen und Information war somit unmöglich und auch unerwünscht.
Nun war allerdings die europäische und nach Nordamerika exportierte Aufklärung kein homogenes Gebilde. Das respektiert Dan Diner und widmet sich hauptsächlich der schottischen Variante, die bei uns weniger bekannt ist. David Hume und Adam Smith waren deren Haupthelden. Und wegen der Auswanderung vieler Denker aus dem bettelarmen Schottland in die Neue Welt behauptet Diner auch:  Amerika ist eine Erfindung der Aufklärung. Andere Ausprägungen wie die eigentlich übermächtige französische Aufklärung bleiben unterbelichtet oder im Falle Deutschlands ganz ausgespart. Dass es sich um keine Arbeit mit wissenschaftlichem Anspruch handelt, wird an den fehlenden Fußnoten und Quellenangaben sichtbar. Im dünnen Literaturverzeichnis findet sich zwar Kants Aufsatz mit seiner berühmten Definition der Aufklärung als dem Ausgang aus selbstverschuldeten Unmündigkeit, im Text des Buches spielt er aber keine Rolle.
Eine Stärke des Aufsatzes ist die Fragestellung, warum dieser europäische Sonderweg von weltgeschichtlicher Einmaligkeit nicht anderswo ebenso oder nur dort hätte beginnen können, also in China, im Osmanischen Reich, im Russland der Zaren. Besonders bezüglich China ist diese Frage sehr berechtigt, hatte es doch gegenüber Europa mehrere Jahrhunderte technologischen und kulturellen Vorsprung. Doch dort wie in den anderen genannten Imperien gab es starke Zentralregierungen. Selbst in Krisenzeiten kam es nicht zur Ausbildung autonom agierender Substrukturen.
Dass sowohl Aufklärung als auch Moderne, als deren (problematisches) Hauptmerkmal er die unaufhaltsame Beschleunigung ausmacht, etwas mit dem Gesellschaftssystem Kapitalismus zu tun haben müssen, steht für Diner fest. Seltsam mutet aber seine Behauptung an, der Kapitalismusbegriff sei erst im fin de siecle, also der intellektuellen Krisenzeit der Wende zum 20. Jahrhundert aufgekommen, bei Marx aber nicht auffindbar. Noch problematischer aber ist seine Reduzierung des kapitalistischen Systems auf Merkantilismus. Als Ursache dafür sieht er die Gier bestimmter Personenkreise. Habgier ist vermutlich eine weltgeschichtliche Konstante seit Jahrtausenden. Das ist als Erklärung für den “Sonderweg” zu dürftig, auch wenn es partiell stimmen mag, dass diese Sucht in anderen Kulturen stärker staatlich kanalisiert wurde. Bei allem Verständnis für die materielle Welt der Warenproduktion bleibt Dan Diner dann letztlich in den Denkfiguren des philosophischen Idealismus befangen.

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