Das war eine langwierige Angelegenheit. Mehr als ein halbes Jahr habe ich an der „Lektüre“ von Oswald Spenglers „Der Untergang des Abendlandes“ gekaut. Grund für das Unterfangen war mein anhaltender Versuch der Annäherung an den Begriff der Moderne. In dieser Beziehung hat sich der Kraftakt kaum gelohnt, aber auch in keiner anderen in nennenswertem Ausmaß.
Spengler war von der fixen Idee befangen, dass sich alle Hochkulturen der Menschheit in einem sich überall gleichenden Schema bewegen, analog zu den menschlichen Lebensaltern, und diese Phasen im alten China oder Ägypten, im antiken Südeuropa oder dem abendländischen Mitteleuropa (für ihn um die erste Jahrtausendwende beginnend) sogar zeitlich annähernd gleich lang sind. Auf sämtlichen Gebieten der menschlichen Existenz sucht er Analogien zwischen den diversen, von ihm selbst festgelegten, Stadien. Wie es sich für einen richtigen Idealisten gehört, kommt das Wirtschaftsleben erst ganz am Ende in einem vergleichsweise sehr kurzem Kapitel dran.
Um nun allzu offensichtlichen Inkomparatibilitäten entgegen zu wirken, führt Spengler drei geistige Daseinsweisen ein: die apollinische, die faustische, die magische. Die erste ist der griechisch-römischen Antike vorbehalten, die zweite dem neuzeitlichen Abendland, der Rest der Welt muss in die dritte passen – orientalische, arabische, indische, chinesische Gesellschaft, sogar das christliche Byzanz. Während er den Unterschied zwischen apollinisch und faustisch nachvollziehbar erklärt – da das stationäre, zweidimensionale, auf den Augenblick gerichtete, hier das vorwärtsstrebende, auf die Ferne schauende Wesen – so unklar muss die dritte Kategorie bleiben. Von Tunnelzeit und anderen erratischen Umschreibungen ist da die Rede.
Nach dem Stadium der introvertierten „Kultur“ aufstrebender Gesellschaften folgt bei ihm das der nach außen drängenden „Zivilisation“, die den Niedergang kennzeichnet.
Im Feld des Politischen hält Spengler den Cäsarismus für die letzte Stufe vor dem Untergang. In Bezug auf sein „Abendland“ mag das zur Zeit des Erscheinens seiner Schrift, also in den 1920ern, fast zutreffen. Doch in seinen längerfristigen Prophezeiungen hat er gründlich daneben gehaun. Er meinte, dass das erste von zwei Jahrhunderten der Endzeit, welches jetzt also gerade zu Ende gegangen ist, die Ablösung der Parteien und der Demokratie durch Diktaturen bringen würde, welche auch die Herrschaft des großen Geldes beenden. Und man muss Spengler an seine Vorhersagen messen, schließlich behauptet er vollmundig: In diesem Buche wird zum erstenmal der Versuch gewagt, Geschichte vorauszubestimmen. Es handelt sich darum, das Schicksal einer Kultur, und zwar der einzigen, die heute auf diesem Planeten in Vollendung begriffen ist, der westeuropäisch-amerikanischen, in den noch nicht abgelaufenen Stadien zu verfolgen.
Noch schlimmer wird es bei Vorhersagen auf anderen Gebieten. Den Höhepunkt der rationalen Wissenschaften hielt er zu seiner Zeit schon für überschritten, und die Darwinsche Evolutionslehre sei dadurch widerlegt, dass nirgendwo Übergangsformen zwischen Arten gefunden worden seien, nur fertig ausgebildete Spezies.
In den größten Widerspruch begibt er sich mit der ziemlich korrekten, wenn auch mythisch verbrämten Charakterisierung des „Faustischen“, also dem nach stetigem Fortschritt strebenden Geist der Moderne (dieser Begriff kommt im Buch selten vor, wenn doch, dann als Synonym für Abendland) und dem gleichzeitigen Beharren auf der Vergleichbarkeit dieses eigentlich weltgeschichtlich singulären Phänomens mit anderen Kulturen bis in kleine Details hinein. Da passt überhaupt nichts zusammen, die Aporien versucht er mit universeller Belesenheit und mit schwülstigen Wortkaskaden zu übertünchen.
Erstaunlich ist die Beharrlichkeit der Verehrung Spenglers durch Vertreter des ultrakonservativen Lagers. Ich konnte bei ihm keine unmittelbar verwertbaren Argumente für deren antidemokratisches, antiliberales, nationalistisches Weltbild herauslesen. Wahrscheinlich haben sich viele gar nicht die Mühe gemacht, den Wälzer wirklich zu studieren. Jedenfalls hält Spengler den von den Rechten gepriesenen Cäsarismus zwar für unvermeidlich, aber keinesfalls als die Rettung, sondern eben für das letzte Stadium vor dem allgemeinen Chaos. Eigentlich müsste jedes politische Handeln demzufolge sinnlos sein. Und Aussagen wie diese dürften den Rechtsauslegern eigentlich überhaupt nicht ins Konzept passen: Alles Gewordne ist vergänglich. Vergänglich sind nicht nur Völker, Sprachen, Rassen, Kulturen. Es wird in wenigen Jahrhunderten keine westeuropäische Kultur, keinen Deutschen, Engländer, Franzosen mehr geben, wie es zur Zeit Justinians keinen Römer mehr gab.