„Hast du jemals erlebt, dass etwas so bildschön zusammenkracht?“ fragt Anthony Quinn als Alexis Sorbas den englischen Halbgriechen Basil, verkörpert von Alan Bates. Die Seilbahn, gedacht für den Holztransport von der Bergkuppe zum erneuten Ausbau der Kohlegrube auf Basils Grundstück, hat den Praxistest nicht bestanden. Die segnenden Mönche wie auch die Dorfbevölkerung sind eilig vor dem sich abzeichnenden Desaster geflohen. Nun wird es nichts mit dem Kohle machen, im wörtlichen wie übertragenen Sinne. Was tun? Lernen, Sirtaki zu tanzen.
Schon eher hatte Sorbas, der ebenso grobschlächtige wie schlitzohrige Grieche, seinen neuen Boss angeraunzt: „Benimm dich endlich, wie es sich für einen verdammten Kapitalisten gehört“, als der zuviel soziales Mitgefühl zeigte. Ein geborener Kapitalist ist der durch Erbschaft zu Areal und Mine gekommene feinsinnige Poet eben nicht. Doch ebenso wenig kommt er mit der erstarrten Welt im kretischen Dorf klar.
Für alle Glorifizier „authentischer Traditionen“ und „Identität“ muss der Film, mehr noch das Buch von Nikos Katzantzakis, auf dem er beruht, ein Lehrstück sein. Falls sie denn etwas lernen wollen. Die schöne, junge Witwe wird vom Mob gelyncht, weil sie sich das Recht nimmt, den Mann, der sie bekommen soll, selbst auszuwählen. Und alle, wirklich alle sind dabei in ihren schicken Festtags-Trachten. Bis auf den Dorftrottel, der einzige Menschliche, der ihnen „Mörder!“ ins Gesicht schreit. Und als Madame Hortense, die französische Hotelbesitzerin, im Sterben liegt, kommen die „Klageweiber“, noch bevor die Dame überhaupt tot ist, um die hemmungslose Plünderung ihres eigentlich spärlichen Besitzes einzuleiten.
Die „Ausländer“ Basil und Hortense sind die Außenseiter dieser verknöcherten Gesellschaft, Sorbas, im Filmtitel anders als im Roman als „der Grieche“ bezeichnet, aber eben von einem Ami gespielt (hervorragend gespielt), steht dazwischen. Er ist ein Entwurzelter, ohne Beruf, ohne festen Wohnsitz, mit gescheitertem Familienleben. Er kommt damit klar, mit diesem Leben, aber nicht mit dem der Dörfler.
Doch auch die Modernisierung, die ausgerechnet mit dem Roden des ohnehin spärlichen Waldes einsetzen soll, endet eben mit einem grandiosen Getöse. Katzantzakis und fast zwanzig Jahre später Regisseur Michael Cacoyannis singen kein Loblied auf den Fortschritt, der die düstere Tradition überwindet. Es bleibt bei einem Unentschieden. Dazu passt dann auch die berühmte Musik von Mikis Theodorakis. Der Sirtaki, den Basil und Sorbas am Ende des Films am Strand tanzen, ist heute der Inbegriff griechische Folklore. In Wahrheit ist er ein Kunstprodukt. So volkstümlich sich die Musik anhört und die Bewegungen aussehen, ist es eine geniale Erfindung des kommunistischen Komponisten.
Szenenwechsel. Ein Motorboot schiebt sich durch undurchdringlichen Nebel. Die Männer auf dem Boot – neben dem Maschinisten also der Vorsitzende des Dorfsowjets Woronzow, sein Brigadier Pawel Pinegin sowie Petrucha, versoffener Narr – suchen die dem Untergang geweihte Insel Matjora, die sie selbst noch bis vor wenigen Tagen bewohnten, auf der nun einige störrische Alte ausharren, sich der Evakuierung widersetzend. Darunter ist Pavels Mutter. Die Männer haben die Orientierung verloren, finden kein Ufer mehr. „Wo ist zurück, und wo ist vorwärts?“ Das wäre sogar beim Styx klar, hier aber nicht.
„Abschied von Matjora“ gehörte in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre zu den Streifen der Perstroika-Zeit, die in der DDR zu einer freiwilligen Überfüllung der Kinos während der zuvor so trögen „Tage des sowjetischen Films“ führten. Von Elem Klimow, der nach dem Unfalltod seiner Frau die Regie des begonnenen Matjora-Projektes nach dem Roman von Valentin Rasputin übernommen hatte, gehörte noch der brutale (Anti-)Kriegsfilm „Geh und sieh“ dazu. Außerdem Tengis Abuladses bittere Stalin-Satire „Die Reue“, die „Briefe eines toten Mannes“ von Konstantin Lopuschanski und einige weitere.
Matjora steht in der Tradition Andrej Tarkowskis, der in fast allen seinen Filmen Zivilisationskritik mit russischer Melancholie auflud. Auch wenn Klimow den religiösen Rettungsgedanken nicht ganz so stark betont wie Tarkowski, ist das Ausspielen von Tradition und Moderne auch bei ihm das Grundmotiv. Er führt es in Holzschnittmanier aus. „Das Gerechte“ und „das Sündhafte“ heiß es in der Diktion von Darja, Pawels Mutter.
Matjora, die Insel in einem der großen sibirischen Ströme, ist wegen eines Staudammbaus für ein Wasserkraftwerk dem Untergang geweiht. Außer Strom, Radio, Fernsehn und Telefon ist hier von der Moderne nichts zu spüren. Die autarke Landwirtschaft funktioniert wie vor Jahrhunderten, ebenso das Zusammenleben.
Die störenden Fremden sind in den Weiten der Taiga keine Ausländer, sondern die „Städter“, in Regenplanen mit Benzinkanister und Kettensäge an Land kriechend, und deren befehlsausführende Büttel, die lokalen Apparatschiks. Wie die Alternative zur heuduftenden Idylle mit den Holzhäusern aussieht, wird an der Szene mit den für die Umsiedler vorgesehenen tristen Plattenbauten im schlammigen Baustellenambiente vor Augen geführt. Und den getragenen polyphonen Gesängen der Alten steht der aus dem gerade reparierten Fernseher strömende Retorten-Pop entgegen, in der russischen Version noch etwas klebriger als in der westlichen. Widerstand ohne Kompromisse leisten eben nur einige Veteranen unter moralischer Führung von Darja und dem und ein Baumriese, der alle technischen Mitteln der Vernichtung abschüttelt.
Klimow verklärt die Tradition, die bei ihm uneingeschränkt wertvoll ist. Alles Neue hingegen ist Verderben. Das sagt ein Filmemacher, der sein Produkt nicht mit der Nipkow-Scheibe hergestellt hat. In dieser Verabsolutierung wird „Abschied von Matjora“ bei all den satten Bildern und der emotionalen Potenz unglaubwürdig. Der zwanzig Jahre ältere „Sorbas“ ist bei vergleichbarem Sujet ganz klar überlegen.