Der Text ist eine Fortsetzung meiner sporadischen Untersuchungen zum Begriff der Moderne. Vorhergehende Artikel, ohne die dieser stellenweise schwer zu verstehen ist, lassen sich unter der Kategorie „Tagebuch der Moderne“ finden.
Der chinesische Admiral und Eunuch Zheng He leitete von 1405 bis 1433, also fast ein Jahrhundert vor den großen “Entdeckern” wie Kolumbus, Diaz oder da Gama, im Auftrag der Ming-Kaiser sieben große Seereisen. Die Flotten bestanden aus bis zu 62 Schiffen (Kolumbus hatte vier bei der ersten Reise) mit bis zu 20.000 Mann Besatzung. Die größten der Dschunken übertrafen die europäischen Schiffe dieser Zeit um ein Vielfaches. Auf dem Deck wurde sogar Gemüse angebaut, so dass das Problem Skorbut nicht aufkam. Für die Navigation wurden u.a. Kompasse verwendet, eine chinesische Erfindung.
Die Liste der Innovationen, mit denen das “Reich der Mitte” Europa um Jahrhunderte voraus war, ist lang. Schießpulver und damit Feuerwaffen, Papier, Porzellan, Druck mit beweglichen Lettern, Schleusensysteme für schiffbare Kanäle etc. Manchen rechtsradikalen “Theoretikern” ist es bis heute nicht peinlich zu behaupten, die europäische Überlegenheit beruhe auf einem höheren Intellekt der “weißen Rasse”.
Zheng Hes Flotten erreichten Indonesien, Indien, Arabien, die afrikanische Ostküste bis zum heutigen Mosambik. Wäre der Auftrag dafür da gewesen, hätte der clevere Admiral sicherlich auch den Seeweg nach Europa “entdeckt”. Er kam nicht zum Zweck der Eroberung, sondern um diplomatische und vor allem wirtschaftliche Beziehungen aufzubauen. Trotz der beeindruckenden Erfolge verrottete seine Flotte nach 1435 in Nanjing. Der neue Kaiser Zhengtong hatte – teils aus ökonomischen Nöten heraus – kein Interesse an der Fortsetzung der chinesischen Überseepolitik.
Will man begreifen, warum die Moderne ausgerechnet in Europa den Ursprung nahm, ist China die bei weitem wichtigste Referenzeinheit. So groß, dass ganz Zentraleuropa mehrfach hineinpasst, schon damals bevölkerungsreicher, wirtschaftlich und technologisch weitaus fortgeschrittener. Und es war trotz vieler Machtkämpfe, Bürgerkriege und Revolten ein straff regierter Zentralstaat. Dagegen Europa im 15. Jahrhundert: in nicht zählbare politische Einheiten zersplittert, sich gerade erst an eine große Vergangenheit wiedererinnernd, chaotisch.
Es gab in China sogar Elemente eines Wirtschaftens, die man protokapitalistisch nennen kann: Banken, Großkaufleute, Manufakturen, Lohnarbeit, sogar einen Versuch, Papiergeld einzuführen. Dennoch: In China gab es zwar Kaufmannskapital – sowohl in Form von Waren als auch in Form von Geld – sowie Ansätze einer industriellen Produktion; aber es fand kein Übergang zu einer Ökonomie des industriellen Kapitals statt.(1)
Einer der Gründe dafür mag die konfuzianische Ablehnung des Gewinnstrebens sein. Doch auch das Christentum lehnte eigentlich bis ins späte Mittelalter den Profit ab. Das kann es noch nicht sein. Schwerer ins Gewicht fällt zweifellos ein Fakt, der zunächst nach einem Vorteil aussieht – der relativ stabile Zentralstaat mit einem Autokraten an der Spitze. Das Schicksal von Zheng Hes so erfolgreicher Flotte ist symptomatisch. Wenn es einem Kaiser nicht gefiel oder ihn bestimmte Einflüsse dazu veranlassten, konnte er strategisch aussichtsreiche Entwicklungen ganz einfach unterdrücken. Diese Macht hatte im Europa des 15. Jahrhunderts kein Herrscher. Nicht die Könige der relativ früh zentralisierten Länder England, Frankreich, Spanien und Portugal. Auch nicht der Stellvertreter Gottes in Rom, Avignon oder sonstwo.
Wer kommt neben China als Vergleichsgröße für den Aufbruch in die Moderne noch in Frage? Eigentlich nur Byzanz und Arabien. Byzanz als Erbe des weströmischen Reiches war das ganze sogenannte Mittelalter (ein rein westeuropäisch brauchbarer Begriff) hindurch ein starker Staat – politisch, wirtschaftlich, religiös. Die Plünderung Konstantinopels durch die ach so christlichen Abendlandsverteidiger des vierten Kreuzzuges 1204 ist einerseits ein Ausdruck der Verrohung der Westeuropäer, andererseits aber auch schon ein Heraufdämmern einer neuen Zeitordnung. Hauptfinanzier des Kreuzzuges war die aufstrebende Republik Venedig. Zweieinhalb Jahrhunderte später ging Byzanz ganz unter. Pikant dabei ist, dass die Osmanen bei der Erstürmung Konstantinopels sich der größten bis dahin gebauten Kanone (Hightech!) bedienten.
Byzanz erscheint im Kontrast zum verdreckten, verdummten Westeuropa des sogenannten Mittelalters ausgesprochen strahlend. So wie China war es aber zentralistisch von mehr oder weniger starker Hand regiert. Hinzu kommt die hier noch bedeutendere Rolle der Religion. Zwar gab es keine echte Gleichsetzung des Kaisers mit dem obersten kirchlichen Repräsentanten, die Verquickung war aber sehr stark. Anders im Westen. Zu klären, was des Kaisers ist und was Gottes ist, wurde durch den im Schnee von Canossa knienden Heinrich IV. erzwungen. Säkularisierung ist ein rein westeuropäisches Phänomen.
Die Araber werden häufig als Bewahrer und Wiederentdecker antiken Wissens gewürdigt, lange vor der sogenannten Renaissance. Doch sie waren auch selbst innovativ. Die Null als mathematische Einheit würden wir ohne sie nicht kennen. Viele technische Neuerungen kamen von ihnen, Grundlagen der modernen Medizin, auch erste Flugversuche.
Das so schnell zustande gekommene Kalifat zerfiel zwar ebenso schnell in Teilreiche, die sich häufig bekämpften. Doch auch hier zeigt sich das gleiche Schema wie in Byzanz. Eigenständige ökonomische Entwicklungen an der Basis werden unterdrückt. Und die Verbindung von Staat und Religion ist mindestens genauso eng wie in Konstantinopel.
Es klingt wie ein dämlicher Werbeslogan. Aber offensichtlich sind Freiheit (sei diese auch nur der Schwäche der vielen kleinen Fürsten zu verdanken) und Kapitalismus im Geburtsstadium Geschwister. Wo es eine starke Zentralmacht gab und eine starke religiöse Autorität, konnte es nichts werden mit dem Risikokapital.
(1) Angela Schottenhammer: Eine chinesische Weltordnung. In: Die Welt im 16. Jahrhundert. Reihe Globalgeschichte. Wien: Mandelbaum 2008; S. 318.